Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

09 | Love, Peace and Massaker

5 Kommentare

Erst kürzlich habe ich im Internet ein Video gesehen, in dem sechsjährige Knirpse altmodische Geräte vor die Nase gesetzt bekamen.
Die Funktion des Walkmans konnten sie noch erahnen. Aber was es mit diesem Gameboy auf sich hatte – eine Art Smartphone mit nur einer App – konnten sie nicht verstehen. In solchen Momenten fühle ich mich einerseits etwas alt, andererseits natürlich auch überlegen. Immerhin habe ich all diese tollen Gerätschaften noch kennengelernt.
Aber man soll ja nicht zu laut lachen. Denn auch ich habe mich schon in ähnlichen Situationen wiedergefunden…

Ich wuchs in einem großen Haus auf dem Land auf. In unserem Wohnzimmer gab es ein Sideboard, auf dem ein überlebensgroßes Musik-Deck stand: Eine Mischung aus Radio, Kassetten- und Plattenspieler, gemischt mit diversen Hebelchen und Knöpfen zum Regulieren des Tons. Verpackt war das Ganze in einen Holzkasten mit Verzierungen. Abgedeckt durch einen aufklappbaren, ähnlich einer Sonnenbrille getönten Plexiglas-Deckel. Quasi so eine Art „Turntable eiche-rustikal“.
Ich kannte nur den Anschalter und wusste, wie man den Ton leiser oder lauter dreht. Das reichte, um „Bibi Blocksberg“ auf Kassette zu hören.
Links und rechts neben dem Turntable eiche-rustikal, etwas entfernt vom Sideboard, standen große rechteckige Holzkisten, mit filigran geschnitzten Füßchen und Schnörkeln. Obendrauf lagen Häkeldeckchen und auf diesen standen kleine Figürchen.
Bis etwa zu meinem zehnten Lebensjahr dachte ich, es handele sich bei diesen Holzkisten um eine Art Deko-Element, quasi ein Sockel, damit die Figürchen im Raum besser zur Geltung kommen. Dass es sich dabei um die überdimensionalen Lautsprecher des Turntables handelte, erfuhr ich erst später.

Durch diverse Umzüge und den Tatbestand, dass auch meine Eltern irgendwann in der Neuzeit ankamen, verschwand der Turntable eines Tages in einem Nebenzimmer. Den Deckel vollgestellt mit Krimskrams, wurde er unsichtbar und ward vergessen…

Bis…
„Mein Gott, ich brauche diesen Song!“ – „Welchen denn, Schatz?“ – „So ein uralter 70er Jahre-Schinken. Wo krieg ich den nur her?“
Meine Freunde und ich, wir hatten da einen Plan. Aber dafür brauchten wir diesen Song. Und der schien ziemlich selten zu sein – mittlerweile.
„Du, den haben wir.“
Woher sollte meine Mutter bitte einen 70er-Jahre-Song kenn… Ach ja!
„Wo haben wir den denn? Auf den Oldie-CDs?“ – „Nee, warte mal“.

Meine Mutter drückte mir einen quadratischen Karton in die Hand.
„Öh, was…“ – „Das nennt man ‚Plattencover‘. Da ist seitlich so ein Schlitz, und dann fällt da so eine schwarze Scheibe raus.“
Wieso spricht meine Mutter mit mir, als wäre ich vier?
„Und was soll ich jetzt damit anfangen? Mir an’s Ohr halten, oder was?“ – „Na wir haben doch noch das Musik-Deck!“
Sprach’s und wechselte ins Nebenzimmer. Nachdem sie zehn Minuten lang Firlefanz zur Seite geräumt hatte, kam tatsächlich der längst vergessene Turntable zum Vorschein.
„Da sind zwar keine Boxen mehr dran, aber du hörst es ja auch so.“
Sie stöpselte den Stecker ein, klappte den quietschenden Deckel nach oben, fummelte routiniert an ein paar Knöpfen herum und drückte mir die Platte in die Hand.

Schallplatte… Vinyl. Klar, sowas hab ich schonmal gesehen und auch gehört. Beim letzten Mal muss ich etwa vier gewesen sein. Vielleicht hatte meine Mutter ja deswegen so mit mir gesprochen…
Damals fand ich Schallplatten auf jedenfall mega-unpraktisch, weil man dazu nämlich selbst in acht Metern Entfernung nicht tanzen konnte: Bei jedem Aufstampfen sprang die Nadel weg. Da waren Kassetten doch bedeutend robuster.

Nun stand ich also dort und fasste die Platte so vorsichtig an, als handele es sich um eine Atombombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Erinnerte mich stark an das Verhalten, das meine Mutter gegenüber CDs hegte…
Ich legte die Platte auf den sich bereits drehenden Plattenteller und schaute wartend zur Nadel. Tja, also… die musste doch jetzt irgendwie da runter auf die Platte. Nur wie? Mein Blick schweifte suchend über das Musik-Deck. Nein, nichts.
„MAMA? Wo is’n hier die Play-Taste??“ – „Was’n für ’ne Play-Taste, Spatz?“
Meine Mutter tappste zurück ins Zimmer und schaute mich irritiert an.
„Frag nicht so dumm. Zum Abspielen! Die Nadel muss doch auf die Platte. Sonst kommt doch da keine Musik raus.“
Meine Mutter zog die Augenbraue hoch, ging zum Plattenteller, setzte die Nadel auf die Platte und verließ wortlos das Zimmer.

Bitte was? Klar, ich bin mit Kassetten aufgewachsen. Aber das der Platte wohl verwandtere Medium war die CD. Und kein vernünftiger Mensch würde je auf die Idee kommen, einen CD-Player offen zu lassen, der CD bei tausendfachen Umdrehungen pro Minute zuzuschauen und dann mit der Hand manuell den Laser in die nano-großen Rillen zu setzen!

Ich hielt mein Ohr nah an die Platte. Und tatsächlich passierte etwas, das man heutzutage nicht mehr kennt: Ganz ohne Lautsprecher konnte ich leise die Musik der Schallplatte hören. Sie klang weit entfernt, als hätte dieses alte Musik-Deck ein Wurmloch in die 60er oder 70er-Jahre geöffnet und ich könnte aus der Ferne der Musik der damaligen Zeit lauschen…

„Na toll. Hier läuft ‚Alexandra – Mein Freund der Baum‘. Den Song will ich nicht und sowieso: Alexandra war ’ne doofe Band!“ rief ich Richtung Küche. „Erstens heißt das nicht Song, sondern Lied. Zweitens heißt das nicht Band, sondern Gruppe. Und drittens war Alexandra keine Gruppe, sondern eine Sängerin“, schallte es zurück. „Ja toll, aber wie spule ich jetzt hier vor?“ – „Na, du siehst doch, wo das Lied aufhört. Immer so zwei Zentimeter etwa auf der Platte“

Meine Mutter betrat wieder das Zimmer. Die Jugend von heute, so hilflos. Uns musste man ja auch alles erklären, sonst würden wir nach dem Kacken mit dem Arsch in der Klobrille steckenbleiben und verhungern.

Meine Mutter setzte die Nadel weiter nach außen.
„Aber da kommt ja immer noch ‚Mein Freund der Baum‘?“ – „Warte doch. Es ist doch nur das Ende. Genauer geht es eben nicht“ – „Was? Das heißt, immer wenn du einen Song hören wolltest, musstest du erst den Rest vom Song davor hören??“
Mein Gott! Die Generation meiner Eltern hat ein Drittel ihrer gesamten Jugendzeit damit verschwendet, Musik zu hören, die sie gar nicht hören wollte!

„Wer hört schon Alexandra. Die ist doch eh total früh gestorben. Die sind doch alle so früh gestorben! John Lennon, Jimi Hendrix, Mama Cass… Was habt ihr denn damals nur getrieben!? Von wegen Love, Peace and Happiness. Love, Peace and Massaker!“ – „Ach komm. Zu unserer Verteidigung: Ein paar von den Leuten sind auch einfach tot, weil das schon so lange her ist. Und überhaupt: Das waren eben andere Zeiten!“
Andere Zeiten! Den gleichen Spruch brachte Oma immer, wenn man sie auf’s dritte Reich ansprach. Damals waren auch soviele gestorben…

„Mal ehrlich. Ich finde, die Zeiten damals waren gar nicht so schön und friedlich. Denk nur an diesen Song, den ihr mir immer auf dem Weg in den Urlaub aufgezwungen habt ‚Juliane Werding – Am Tag, als Conny Kramer starb‘. Da ging es um den Tod eines jungen Mannes. Total traurige Depri-Stimmung!“ – „Aber in dem Lied ging es doch gar nicht um den Tod. Da ging es um Drogenmissbrauch!“
Ach so, na klar: Drogenmissbrauch ist erstens viel besser als Tod und zweitens ist die Tatsache, dass der junge Mann AM Drogenmissbrauch gestorben ist, ja nur so eine kleine nebensächliche Randerscheinung. So wie wenn man zuviele Zwiebeln gegessen hat und dann davon furzen muss!

Aber die Vorstellung, dass meine Mutter, diese kleine Frau mit dem blondierten Nena-Vokuhila und der Rüschen-Schürze ein paar Jahrzehnte zuvor mit langem gewellten Haar, mit nichts als einem Blumenkranz im Haar barbusig durch hohes Gras tanzte und mit wildfremden Männern kiffte, von denen höchstwahrscheinlich keiner mein Vater war. Oder alle meine Väter sein könn…

Ok, das reichte. Ich klappte den Deckel geräuschvoll zu. Das Wurmloch schloss sich.
Zurück in die Zukunft!
Ich rannte die Treppe hinauf in mein Zimmer und hörte erst einmal ein paar Stunden lang CDs und schleckte meinen Farb-Fernseher ab.

Unten stand meine Mutter, lächelte verträumt und murmelte „Gimme gimme gimme a man after midnight, won’t somebody help me chase the shadows away…“

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

5 Kommentare zu “09 | Love, Peace and Massaker

  1. Ich kenne das Platten-Zeitalter noch, wenn auch nur aus der Kindheit – aber immerhin hatte ich noch einen eigenen Plattenspieler 🙂

    Schön war daher dieser Wortwechsel am Geburtstag eines Freundes (ist allerdings aus den Jahren, wo alte Platten noch nicht auf CD erhältlich waren):
    „Oh, dankeschön, eine CD. Was ist denn da drauf?“
    „Ich habe deine Lieblingsplatte von Genesis draufgebrannt, Papa. Natürlich bearbeitet, dass sie rauschfrei ist und besser klingt.“
    „Besser klingt… aha.“
    Er legt die CD ein, und wir lauschen. Nach ca. einer halben Stunde sagt er:
    „Dass hast du richtig klasse gemacht. Aber wusstest du, dass eine LP zwei Seiten hat?“

    Wir mussten uns echt das Lachen verkneifen und sein Sohn hatte keine Ahnung warum… XD

    Gefällt 1 Person

  2. von meiner schwester habe ich vor kurzem alte fotos von mir bekommen und ich erinnere mich wieder an meine jugend in den 60er und frühen 70er jahre:

    steckdosen, medizinflaschen, reinigungsmittel, schranktüren und schubladen waren noch nicht kindersicher. messer, gabel, schere und licht wurden uns zwar verboten, aber meistens mussten wir uns erst einmal daran verletzten um es zu verstehen. klimawandel, umweltzerstörung und gesunde vegane ernährung kannten wir noch lange nicht.
    https://campogeno.wordpress.com/helden/

    Gefällt 1 Person

  3. hey, ganz toller erzählsound! großes lesevergnügen, gruß sabine

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar