Roe Rainrunner

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15 | Kapitalistische Vorhölle

10 Kommentare

Kürzlich war ich in einer dieser Einkaufshallen, in denen man von Dessous bis Gartenmöbeln alles erwerben kann.

Wir schritten durch den Eingang und sogleich blinkten und leuchteten von überall Angebotstafeln. Links Mostgärendes Obst zum Sonderpreis, rechts geblümte Baumwoll-Schlüpfer im Hunderterpack, vor uns Intimpflegelotion im Kombipack mit Nagelklippser und Essstäbchen.

Mein Einkaufszettel befahl mir, Apfelsaft zu kaufen.

Also schlängelten wir uns an strategisch wertvoll aufgebauten Wühl- und Krabbeltischen, Rabatt-Regalen und Restposten-Kisten vorbei.
Wir schafften es sogar erfolgreich, vor den wie festgetackert-lächelnden Gratis-Proben-Anbietern zu flüchten, die uns beharrlich etliche Regal-Reihen lang verfolgten.

Bereits nach einer halben Stunde standen wir in der Getränke-Abteilung.

Apfelsaft, Apfelsaft. Sollte eigentlich nicht so schwer sein.
Könnte man meinen.
Aber es gab Saft aus 100% Frucht, 99%, 98% und so weiter, bis hin zu Wasser mit Apfel-Aroma.
Saft aus gelben Äpfeln, hellgrünen Äpfeln, dunkelgrünen Äpfeln, roten Äpfeln oder grün-roten Äpfeln.
Saft von Äpfeln aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Russland, China oder Südafrika.
Saft von ordinären Äpfeln, Bio-Äpfeln, gespritzten Äpfeln, Saft von garantiert glücklich freiwachsenden Äpfeln.
Saft klar, naturtrüb, mit Zuckerzusatz, mit Süßungsmitteln, aus Konzentrat oder Nektar, als Sirup oder auch Instantpulver.
Saft in Glas-Flaschen, Tetrapacks, Tüten, Kanistern oder als gefrorene Eiswürfel.
Saft in Abstufungen 0.2l Mini, 0.5l für normalen Durst, 0.75l für Singles, 1l für Paare, 2l für Familien oder 15l für den nuklearen Winter.
Saft, der aus den Äpfeln gepresst, geschlagen, gedroschen, geschüttelt oder geschleudert worden war. Ja sogar Saft, den man nach amerikanischem Modell aus den Äpfeln herausgefoltert hatte.
Es gab alles!

Vor mir bäumten sich 97 verschiedene Apfelsaft-Produkte auf.
Mit großen Augen blickte ich entsetzt vom Regal zurück auf meinen Einkaufszettel: „Apfelsaft“.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht, einen Einkaufszettel mit dem Wort „Apfelsaft“ zu schreiben? Was sagt eine derart lapidare Ausdrucksweise über mich aus? Wusste ich nicht, wer ich war? Wusste ich nicht, was ich wollte?
Auf jedenfall aber musste bei mir eine schwere psychische Störung vorliegen, soviel war klar.

Was sollte ich nur tun? Würde ich mich für irgendeine der 97 Sorten entscheiden, würde ich mich während des gesamten Verzehrs doch stetig fragen, ob eines der anderen 96 Produkte nicht viel besser geschmeckt hätte!

Posttraumatische Belastungsstörung. Ausgelöst durch Einkaufen.

Da war es, ich hörte schon Stimmen in meinem Kopf: „Psychologische Kriegsführung…“, „Strategische Marktplanung…“, „Letztes Fangnetz Kassen-Regal…“
Ich schaute meinen Begleiter an: „Oh Gott, wir müssen von hier fliehen, bevor sie uns kriegen!“

Einige Zeit später stand ich an der Kasse eines minimalistischen Billig-Discounters, in der Hand ein unscheinbar designtes Produkt mit der Aufschrift „Apfelsaft“ und einem hochzufriedenen Lächeln im Gesicht.

Und ja, er schmeckte großartig.
Prost!

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

10 Kommentare zu “15 | Kapitalistische Vorhölle

  1. Und das war echt nur die Vorhölle? Mann o Mann hört sich verdammt nach richtiger Hölle an 😉

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  2. Aber was wäre das für eine Welt, in der wir nicht mehr die Wahl zwischen trüb und klar, sortenrein und gemischt, gepanscht und frisch, aus Konzentrat, frischen Äpfeln, aus Lammkoteletts oder Chemielaboren hätten? Noch schlimmer ist nur: Gar kein Apfelsaft. 😉

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  3. Du hast gerade Discounter beworben ^^ – They got you. You can not escape.

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  4. Ähnliches ist mir letztens mit Oliven passiert.
    Die Frage ist nur: soll das Ausdruck unseres komplexen Denkens sein oder will man uns nur handlungsunfähig machen? Für mich als Philosophiestudent können solche Läden eine ernsthafte Gefahr darstellen. Keiner meiner Dozenten möchte eine Hausarbeit über Oliven lesen. Vielleicht sollte ich Apfelsaft als Thema vorschlagen.
    Einzig Kekse haben das Recht, so vielfältig in Erscheinung zu treten.

    Grüße mit einem Weizenkeks, bio, mit Honig gesüßt, Schokoglasur, Viereckig ohne Ecken. Keksig.

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  5. Du beschreibst sehr anschaulich ein Phänomen, nämlich dass eine zu große Auswahl letztlich handlungsunfähig macht :-). Abgesehen davon trinke ich normalerweise keinen Saft, schon gar nicht Apfelsaft. Wenn es schon Apfelsaft sein soll, dann sortenreiner aus dem Stift Klosterneuburg http://derstandard.at/1827239/Fluessiges-Obst, der ist echt lecker.

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  6. In meiner Heimat hatten wir auch so einen Laden.
    Fürs Einkaufen kommt man unter 3 Stunden nicht rum.
    Und die Auswahl macht einen Wahnsinnig.

    Ich hab mit meiner Tochter damals, als sie noch kleiner war, öfter mal so einen Abenteuer-Erlebnis-Tag geplant. Da gingen wir nur in diesen Laden, um Neues zu entdecken.
    So ähnlich, als gingen wir durch den Zoo besahen wir die Regale und staunten.
    Ab und zu war in der Obst- und Gemüseabteilung ein Mitarbeiter, der dich fremdartige Gewächse hat probieren lassen.
    Das war spannend.
    Gekauft hat man trotz des Angebots dann meist aber doch DAS, was man kannte; was man immer hatte….
    Ich finde es grauenhaft, dass es derart viel Auswahl gibt.
    Ich bin eher ein Fan von „Schuster, bleib bei deinen Leisten“.

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  7. Säfte sind glykämisch ungünstig. Sprich, sie sorgen durch unangemessene Insulinausschüttung dafür, dass man sein Idealgewicht mehr als 100pro erreicht. Also besser nicht Apfelsaft auf dem Einkaufszettel haben.
    Mich hätte die hier plastisch dargestellt Überflussvielfalt auf einem fremdgeschriebenen Einkaufszettel dazu geführt, dass mein Smartphone-Akku noch vor dem Supermarktkassen-Besuch leer gewesen wäre.
    Ansonsten: Sowas von gut geschrieben. Nicht nur weil ich mich köstlich unterhalten gefühlt habe.
    Marcel Reich-Ranicki hat mal gesagt: Autobiographisches hat nichts mit Literatur zu tun.
    Da bin ich nie konform gegangen.
    Ich meine: Gerade das Autobiographische ist die Quelle authentischer Literatur. Das muss man erst mal tun. Einkaufen gehen. Und dann sowas schreiben….
    Danke.

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