Roe Rainrunner

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19 | Uns ist egal, ob du Drogen nimmst

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Ich war knapp über 20 und wollte endlich ein Piercing, bevor ich zu alt dafür war.

Wann auch immer man diesen ominösen Zeitpunkt „ZU alt“ erreicht, vor dem mich meine Mitmenschen stets warnten.

„Hey Mitbewohner! Ich will endlich das Augenbrauen-Piercing, das ich mir schon solange gewünscht habe. Wo hast’n du die Lochzange hingetan?”
Mein Mitbewohner schaute mich argwöhnich an: „Du kannst dir doch nicht selbst ein Piercing stechen! Schon gar nicht mit einer Lochzange!!“
„Wieso denn nicht? Wäre auf jedenfall billiger!“
„Stell dir mal vor, wie weh das tut. Nicht auszudenken, wenn es sich entzündet. Noch dazu an der Augenbraue. Was, wenn du abrutscht? Du könntest das Auge verlieren!“
„Ja… Aber es wäre nur EIN Auge!“
Wenn man jung ist, klingen solche Argumente total plausibel.
Mein Mitbewohner war jedoch älter als ich, somit ließ ich mich zum Besuch im Tattoo- und Piercing-Studio überreden.

Ich stand also kurz darauf in einem Studio, welches genauso klischeehaft aussah, wie ich es mir vorgestellt hatte. Überall Graffiti, sonderbare Musik und undefinierbare Designerstücke, welche wohl als Sitzmöbel fungieren sollten.
Man deutete mir an, zu warten und mich derweil zu setzen.
Ich tat wie mir geheißen und sank so weit ins Polster ein, dass meine Nasenspitze meine Knie berührten. Immerhin wurden so beim Ausatmen meine Beine gewärmt…

Während der Wartezeit belauschte ich ein Gespräch mit einem tättowierten, gepiercten Typen und einer jungen, sehr dünnen Blondine.
Der Mann (offenbar der Piercer): „Wo soll das Piercing denn hin?“
Sie: „Ins Dekolletè, zwischen die Brüste“
Piercer (bestimmt): „Nein, das geht nicht.“
Sie (entsetzt): „Was?“
„Für ein Surface-Piercing bist du viel zu dünn. Das Metall würde direkt auf dem Brustkorb reiben und es würde spannen. Spätestens wenn du dich auf den Bauch schmeißt, würde das Piercing rausreißen und quer durch’s Zimmer fliegen!“
Sie (mittlerweile weinerlich): „Aber meine Freundinnen haben alle eins!“
Er (tonlos): „Herzlichen Glückwunsch, du bist die Dünnste in deiner Clique.“
Das war das erste Mal, dass ich meinem knautschigen Körper etwas Positives abgewinnen konnte: Ich hatte jederzeit die Möglichkeit, mir einen Metallstab zwischen die Titten rammen zu lassen!

Nun war ich an der Reihe. Zuerst musste ich ein mehrseitiges Formular ausfüllen.
Auf Seite 2, Mitte, extragroße Schrift: „Hiermit bestätige ich _Name_, nicht unter dem Einfluss von Alkohol, Kokain, Heroin, Amphetaminen […] zu stehen.“
Ich: „Wow, das ist hier ja richtig seriös. Wenn sogar sichergestellt wird, dass man Herr seiner Sinne ist? Nicht, dass man am nächsten Tag nüchtern wird und alles bereut!“
Piercer: „Bestimmte Substanzen wirken blutverdünnend, dann hören die Wunden nicht mehr auf zu bluten. Ob du bei klarem Verstand bist, ist uns egal, solange du vorab bezahlst.“
Öh…

Nachdem ich meine Unterschrift unter den Wisch gesetzt hatte, konnte es losgehen.
Der Piercer deutete mir an, meinen Astralkörper auf die Liege zu betten.
„Im Sitzen wäre mir lieber.“
„Nein, bitte leg dich hin. Da haben sich schon viele überschätzt und dann wurden sie ohnmächtig!“

Ein bisschen Schiss hatte ich ja schon. Immerhin waren mir im Alter von fünf Jahren bei einem Juwelier Ohrlöcher geschossen worden und ich hatte vor Schmerz den ganzen Laden zusammengebrüllt.
Dieses Mal merkte ich jedoch fast nichts vom Stechen. Er pfriemelte mit seinen schwarzen Latexhandschuhen vor meinem rechten Auge herum und kommentierte: „Fertig!“
Super! Ich versuchte, wieder von der Liege hochzukommen, röchelte „Öh… ächz… wuaaar“ und ruderte verzweifelt mit den Armen.
„Oh Gott, wirst du doch noch ohmächtig?!“
„Nein, ich hab’s im Kreuz und komm nicht mehr alleine hoch!“
(Erstes Anzeichen, den Punkt „zu alt“ bereits erreicht zu haben?)

Ich hatte ein Augenbrauen-Piercing. Endlich!

Zu Hause angekommen, rannte ich die Treppe hoch und riss die Wohnungstür auf.
Euphorisch deutete ich auf meine Augenbraue: „Gugg maaal!“
Mein Mitbewohner grunzte gelangweilt: „Ich seh’s.“
„Ich hab endlich mein Pööörßiiing! Und ganz ohne Lochzangeee!“
„Ich sagte dir ja, dass das besser ist. Mir liegen deine Gesundheit und dein Wohlbefinden sehr am Herzen,“
Och, war er nicht süß?
„… denn wenn du krank wirst und stirbst, übernimmt keiner mehr deine Hälfte der Miete!“

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

11 Kommentare zu “19 | Uns ist egal, ob du Drogen nimmst

  1. Liebe zeigt sich halt auf verschiedene Arten…..;-)

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  2. Es geht nichts über ein fürsorgliches und liebevolles, soziales Umfeld 🙂
    Schöne Geschichte!

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  3. Ich hab mich auch mal gepiercingt.
    Mit nem Druckluftnagler in die Hand. Tat auch nicht weh. 🙂

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  4. ich hatte auch mal eins *lol
    …sollte wohl nicht sein, denn nur kurze Zeit später, im Urlaub, bin ich dran hängen geblieben und mir herausgerissen.
    DAS TAT ERST MAL WEH !!!

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  5. Wie das Leben so spielt…. aber das jetzt alles für die Katz war, da rausgerissen, tut mir ein wenig leid… Für mich wäre das auch eine echte Überwindung… ich lasse es lieber.

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