Roe Rainrunner

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20 | Blinkende Klobürsten und fliegende Einhörner

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364 Tage hatten wir Zeit, es zu verdrängen und doch ist es wieder da: Weihnachten!
Die angeblich besinnlichste Zeit des Jahres. Für viele Menschen aber einfach nur der größte Stress neben den Sommerferien (schließlich muss man da seine Kinder sechs Wochen am Stück ertragen).

Als ich noch jung war, galt meine größte Sorge in der Weihnachtszeit dem Adventskalender. Den hatte ich nämlich stets schon am Abend des 30.11. vollständig geplündert und musste mir Taktiken überlegen, diesen Umstand die nächsten 24 Tage möglichst gut zu verbergen.

Als Erwachsener hat man es da schon schwerer. Für uns verwandelt sich das Thema Weihnachten erfahrungsgemäß in einen Projektplan mit 380 Meilensteinen, die alle vom 01.12. bis 24.12. erledigt werden müssen.

Da wären zum Beispiel die Geschenke.
Zuerst musst du eine Liste von Menschen machen, denen du etwas schenken möchtest. Dann musst du eine Liste von Dingen machen, die du schenken willst. Und dann musst du noch eine Liste machen, wann du all diese Dinge im Online-Shop spätestens bestellen musst, da ab Mitte Dezember sämtliche Paket-Dienste komplett ausgelastet sind und die dann noch zu liefernden Pakete frühestens gegen Ostern eintreffen (was übrigens erklärt, wieso man von manchen Menschen zu Ostern immer dicke Wollpullis mit Rentieren drauf bekommt).

Selbst wenn du das alles beachtet und geplant hast, können immer noch unerwartete Wendungen eintreten. Im Erwachsenenalter ist die Apokalyptischste aller eintreffenden Katastrophen das rote Symbol im Online-Shop mit dem Schriftzug „nicht mehr lieferbar“. Dadurch wird der gesamte Projektplan zu Fall gebracht und es bleibt nur noch, in eine dieser völlig überfüllten Einkaufshallen zu rennen, sich an als Engel verkleideten Kindern (ja klaaar!) vorbeizudrücken, grausamste Weihnachtslied-Tiraden abzuwehren und sich mit hunderten anderen Verzweifelten um das letzte orangene Furby-Spielzeug zu prügeln. Übrigens der einzige Grund, wieso Frauen Handtaschen mit sich herumtragen: Diese eignen sich hervorragend als Schleuder- und Wurfgeschosse und können prima am Henkel zurückgezogen werden, um sofort den nächsten Angriff zu starten.

Auch mich erwischte dieses Jahr wieder das rote Symbol und ich musste mich in den heiligen Hallen dem Prügeltross anschließen.
Irgendwann aber war es endlich geschafft und ich hatte alle Pakete, Päckchen und Tüten zu mir nach Hause geschleift, wo ich die riesige Frachtladung erstmal in den Innenhof schmiss. Nach einem kurzen Päuschen machte ich mich daran, die Pakete die tausenden Stufen nach oben zu tragen (Memo an mich selbst: Beim nächsten Umzug auf Lift achten. Notfalls Vermieter zu Flaschenzug zwingen).

Am darauffolgenden Morgen wurde ich von ohrenbetäubendem Lärm geweckt: im Hinterhof lief ein schwer bewaffnetes Bomb-Squad-Team herum. Als ich in Schlafanzug und Quieke-Puschen mit dem „Guten Morgen Sonnenschein“-Kaffeebecher in der Hand vom Fleck weg evakuiert wurde, stellte ich fest: Dieses eine große Paket hatte ich am Vortag wohl versehentlich doch im Innenhof stehenlassen…

Dann sollst du als Erwachsener auch noch Plätzchen backen, weil „Plätzchen kaufen ist weder mit Liebe, noch von Herzen“ (Tante Ursi nachäff).
Ich wühlte also verzweifelt durch meine Kochbuchsammlung, bis mir ein Zettel mit einem in Altdeutsch verfassten Rezept in die Hände fiel, welches so glorreiche Angaben enthielt wie „3kg Mehl, 1.5kg Zucker, 600g Butter, 12 Eier…“
Natürlich machten mich die Mengen-Angaben nicht stutzig. Unsere Vorfahren mussten gewusst haben, was sie tun. Sonst hätten sie ja schließlich nicht überleben und uns bekommen können.

Nachdem ich das neunte Backblech aus dem Ofen zog und der Teig sich nicht einmal ansatzweise dezimiert hatte, wurde es mir dann doch klar: Das Rezept musste Uroma Liesel entstammen, die immerhin 13 Kinder und demzufolge auch eine entsprechende Menge Plätzchen zu backen hatte!
Um all diese Plätzchen verzieren zu können, hätte ich wohl einen Betonmischer voll Schokoladen-Glasur bestellen müssen!

Der heilige Abend rückte näher und die gesamte Sippe hatte sich im Haus meiner Oma Irmchen eingefunden.
Unsere Oma bestand wie jedes Jahr darauf, dass die Familie den Baum zusammen aufstellte und schmückte, weil das ja schon Tradition zu einer Zeit war, als es auf dem Planeten noch gar keine Bäume gab.

Zum Thema Weihnachtsbaum lässt sich sagen, dass meine Familie fast schon umweltbewusst handelt. Wir benutzen nämlich seit 50 Jahren ein und denselben ranzigen Plastikbaum. Das Motto meiner Familie lautet „Unser Weihnachtsbaum kann nie abbrennen, höchstens schmelzen!“
Habt ihr schonmal einen künstlichen Tannenbaum gesehen? Die sehen aus wie riesige grüne Klobürsten. Aber nunja, manche Völker beten Naturgeister an, meine Familie eben eine beleuchtete Klobürste.

Nachdem wir auf dem Dachboden den staubigen Karton mit der Aufschrift „Weihnachtsbaum“ gefunden hatten, musste der Baum erstmal zusammengesteckt (!) werden. Da er aufgrund des Alters und der schlechten Lagerung total verzogen war, halfen nur Rohrzange und Heißklebepistole.

Doch damit war das Schlimmste noch lange nicht überstanden. Das Schlimmste in jedem Jahr ist nämlich der Punkt „Lichterkette installieren“.
Da standen nun also 30 Menschen wild schreiend und gestikulierend vor einem Stück Plastik und diskutierten, wie man die ollen Birnchen nun am besten um die grüne Klobürste drapieren könnte. Derweil hatte der vierjährige Tommy die Lichterklette längst unbemerkt aus der Packung rausgefingert. Das Ergebnis: Der Baum war immer noch nackt, die Menschen daneben aber erfolgreich in die Lichterkette eingewickelt.
Mein Tipp: Für ein gelungenes Foto die Lichterkette zuerst einstecken!

Vor „Lichterkette befestigen“ kam nun also erstmal das viel spannendere Spiel „Lichterkette entwirren“.
In solchen Momenten bleibt nur, das allgemeine Chaos zu nutzen und sich zu verdrücken.

Während ich auf dem Balkon saß, einen Punsch trank und den Sss…taubflocken zusah (wir erinnern uns: Klima-Erwärmung), rannte mein Cousin mit einer PMS-ähnlichen, säuerlichen Grimasse durch die Wohnung und knurrte: „Brrrenneee!“
Nein, damit meinte er nicht die Kerzen auf dem Adventskranz. Als Heide hält er von christlichen Gebräuchen soviel wie gesunde Menschen von einer Darmspiegelung.
Als Atheist und gesunder Mensch sehe ich das übrigens ähnlich.
Immerhin hatten wir die Familie bereits davon abbringen können, uns zur Weihnachtsmesse zu schleifen. Mein Cousin und ich waren in unserer Jugend nämlich Metalheads und nach Auflegen der richtigen Mischung Corpsepaint und Killernieten, wollte man uns nie wieder in der Kirche sehen (Hausverbot in einem Gotteshaus, das muss man erstmal schaffen).

Es wurde spät und Oma Irmchen tischte ihr Weihnachtsessen auf.
In solchen Situationen verwandelt sich meine Familie stets in eine barbarische Horde am Schweinetrog.
Mein Trick bei solchen Gelegenheiten ist, herabfallende Essensstücke direkt mit dem Fuß zu meinem Sitz-Nachbarn zu stupsen, damit die schlechten Manieren nicht auf mich zurückzuführen sind.

Ich musste nur noch die Bescherung überstehen und danach könnte der 364 Tage dauernde Verdrängungsmechanismus wieder einsetzen.
Davon konnte allerdings keine Rede sein, denn Oma Irmchen echauffierte sich erstmal darüber, dass wir alle des Teufels wären! Schließlich dürfe man keine Ostereier und Halloween-Kürbisse als Weihnachtsplätzchen servieren! Sie ließ sich von mir auch nicht damit besänftigen, dass ich die elf Kilo Plätzchen-Teig des Rezepts ihrer Mutter nur mit ganzen Armeen von Ausstechformen und diversen anderen Hilfsmitteln (da fällt mir ein: Ich muss den Nachbarn noch ihre Blumen-Untertöpfe zurückbringen…) hatte zähmen können.

Onkel Herrmann fragte derweil, wer ihm den pinken „Nacken-Massage-Stab“ geschenkt hatte und ob man den auch für den Rücken verwenden könne.
Oh oh! Liste von zu Beschenkenden – check. Liste von Geschenken – check. Liste, auf der zu Beschenkende und Geschenke korrekt zusammengeführt werden – whups.

So endete der Weihnachtsabend unter schwerem Beschuss von Einhorn-Plätzchen und lauten Rufen nach Zahlungsbelegen, damit man die Geschenke schnellstmöglich wieder umtauschen könne.

Wahrscheinlich feiert man Silvester deswegen immer ohne Familie...

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

16 Kommentare zu “20 | Blinkende Klobürsten und fliegende Einhörner

  1. Okay … Wo bekomme ich Einhorn-Ausstechformen her?!

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  2. Herrlicher Text, so viel Beschwingtes und Heiteres, so viel an Wahrheiten – DANKE (ich schmunzel immer noch).
    Schöne Feiertage noch (wünscht Dir die, die schon zu Weihnachten ohne Familie, so ganz in trauter Zweisamkeit …) :-).

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  3. Allein die Überschrift deines Posts zwang mich fast dazu ihn zu lesen! 😀 Witziger Text über die Weihnachtszeit, den ich mit dem ein oder anderen Lachen im Gesicht teilen konnte =) Schöne Weihnachtstage noch =)

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  4. Da bin ich wirklich froh, dass sich Weihnachten für mich aufgrund einer wesentlich kleineren Familie deutlich stressfreier gestaltet. BTW, wie machst du das, dass die Liste der Bloggerinnen, denen das gefällt, angezeigt wird?

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  5. Hehe, wirklich sehr schön geschrieben! Ich muss noch immer schmunzeln 😁
    Lg Christina

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  6. Das gefällt mir 🙂 Sehr lustig^^

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  7. PMS. Was ist das für eine Krankheit?
    Furby: Das waren die quäkenden Monster, die erst im Dunkel des Vorratsschrankes nach gefühlten Eiszeiten Ruhe gaben? Was macht man heute als Erziehungsverpflichteter ohne diese Quengelgeister?
    Den Tipp mit dem Speise-Weiterreichen unterm Tisch merke ich mir. Sollen ja alle was von haben. Danke.
    Auf meinem Nacken-Massage-Stab, der übrigens weiß-blau ist, steht „Oral“ drauf. Und man kann sogar Zähne mit putzen.
    Gut, dass ich den Artikel jetzt lese, demnächst werden die Tage kürzer, und auch der Abstand zu Weihnachten. Und die ungeschriebenen Weihnachts-Check-Listen länger und länger.
    Danke für das Lese- und Lach-Vergnügen.

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    • PMS ist keine Krankheit, sondern ein Zustand. Prämenstruelles Syndrom. Kennst du doch bestimmt 😉

      Furbys waren Reallife-Tamagotchis. Ich hatte nie ein Furby, aber ich wollte immer eins!

      Das mit dem blauweißen Nacken-Massagestab merk ich mir 😉

      Dann bestell schonmal die Geschenke und frag direkt nach Weihnachtsgeschenkpapier-Verpackung 😀

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      • Klar. PMS. Bekannt aus Funk, Film und Fernsehen. Danke.
        „Ich“ hatte ein Furby…
        Gute Idee mit der Verpackung. Das Osterhasenpapier lege ich erst mal auf Seite.

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