Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

22 | Nackte Seekühe

22 Kommentare

Letztens traf ich auf der Straße einen alten Bekannten.
Er lächelte mich an und begrüßte mich mit „Hey Roe! Du siehst ja…“, er begutachtete mich von oben bis unten und stockte. Ich trug einen langen Rollkragen-Pullover in der Farbe Schimmel. Um den Schulterbereich tanzten Schneeflöckchen und auf meinem Busen hoppelten Rentiere. Das Ganze gepaart in Strick-Optik und ich hatte meinem Ruf wieder alle Ehre gemacht.

Dabei besitze ich wunderschöne Rollkragen-Pullover. Edle Stoffe, elegantes Schwarz, figurumschmeichelnder Schnitt. Nur leider mit einem sehr eklatanten Nachteil: Die Länge jener hübschen Rollis endet genau auf dem Hosenbund. Solange man den Bauch einzieht, kerzengerade steht und nicht atmet, ist das überhaupt kein Problem. Da ich im Laufe eines Tages aber doch hin und wieder zu Bewegungen neige, haben mich diese Kleidungsstücke schon in die ein oder andere peinliche Lage versetzt.

Ich saß des Morgens am Schreibtisch, kaute auf meinem Kuli und endlich traf mich die Erkenntnis. Im Jubel entließ ich den Kuli aus meinem Mund, von wo aus er sich der Erdanziehungskraft hingebend dem Teppich zuwandte.
Da Büroangestellte nicht viele Gemeinsamkeiten mit Sportlern aufweisen, beugte ich mich röchelnd wie eine Seekuh und prustend wie ein Wal unter den Tisch, um das abhanden gekommene Stück wiederzuerlangen. Im selben Moment spürte ich einen kühlen Luftzug auf meiner Rückseite: Der hübsche schwarze Rolli hatte sich nach oben gerollt und eine komprimierte Position in meinen Nacken eingenommen.
Die Kollegen im Umkreis beobachteten mich interessiert und stellten kritisch fest: „Ein BH-Verschluss mit drei Häkchen? Ist das ein Keuchheitsgürtel für obenrum?“ – „Ist das, was wir da im südlichen Bereich sehen können, jetzt eigentlich noch ‚verlängerter Rücken‘ oder schon ‚Oberschenkel-Ansatz‘?“
Ich tauchte mit hochrotem Kopf wieder unter dem Tisch hervor und kommandierte alle zurück an ihre Arbeit.

Ähnliche Querelen folgten beim Einkaufen. Meine geliebten Belgischen Meeresfrüchte werden im Regal ganz oben gelagert. Dank durchschnittlicher Körpergröße muss ich mich also sehr hoch recken, um an die guten Stücke zu gelangen.
Ich trug an jenem Tag den schwarzen Rolli und stand wie angewurzelt vor dem Regal, sehnsüchtig zu den Nougat-Pralinen aufblickend. Wie da nur rankommen? Ich probierte es mit am Körper angewinkelten Armen und auf der Kante meiner Zehenspitzen hopsend – nichts. Vielleicht den Rucksack raufwerfen und hoffen, dass er mit einer Schachtel wieder runterkommt?
Es half nichts, ich musste mich strecken. Noch einen kurzen Blick nach links und rechts, ob auch ja keiner zu sehen war und los. Der Bund des Rollis kämpfte hart gegen meinen Bauchansatz. Dann ploppte der Bund die erste Etappe nach oben und legte meine Plauze frei. Der Pulli kämpfte ein weiteres mal gegen meinen Busen, verlor erneut und die zweite Etappe war geschafft.
Während ich mich mit der linken Hand am Regal festhielt und mit der rechten rudernd nach den Pralinen fuchtelte, fragte ich mich, welchen BH ich eigentlich heute…
„Gugg mal Mama, Blümchen!“
Genau, den BH mit dem floralen Must… WAS?
Ich ließ die gerade erbeutete Schachtel Pralinen entsetzt fallen. Neben mir stand eine ganze Familie. Das Baby quiekte vergnügt auf dem Arm der Mutter und zeigte glucksend in meine Richtung. Offenbar hatte es Hunger… Der Vater hielt den beiden Kindern die Hände vor die Augen, nicht ohne selbst mit offenem Mund zu starren.

Super. Jetzt wurde ich wieder im ganzen Viertel bekannt, als die verrückte Nackte im Supermarkt. Noch ein Hausverbot wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses konnte ich mir nicht leisten. Schließlich muss irgendwer für meine Pralinen-Sucht aufkommen!

Ich sah schon, wie in einigen Jahrzehnten die Trauerrede gehalten wurde: „Wir haben uns heute hier versammelt, um Frau Rainrunner in die Ewigkeit zu geleiten. Frau Rainrunner wurde nie berühmt, nie reich und auch nie ein Supermodel, war aber Zeit ihres Lebens weltweit für ihre unorthodoxen Büstenhalter bekannt. So nehmen wir heute Abschied…“

Da stand ich also, in Regalreihe 4, den Rollkragen-Pulli wulstig unter dem Hals klebend, den Kindern in Blickweite die Unschuld geraubt.
Ich rupfte den Bund meines Pullis über meinen kurvigen Körper, grabschte nach der auf dem Boden liegenden Pralinenschachtel und brüllte: „ICH HABE NOUGATPRALINEEEN! UND IHR NIIICHT! MUAHAHAR! BUÄBÄBÄBÄ!!!“
Hocherhobenen Hauptes, die erkämpfte Pralinenschachtel fest an den Körper gepresst, tappste ich – die Familie irritiert zurücklassend – davon. Die waren jetzt eh erstmal damit beschäftigt, ihren Kindern zu erklären, dass man vor dem Essen keinen Süßkram naschen darf.

Irgendwann hatte ich mir dann den schimmeligen Rentier-Pulli gekauft. Nicht, weil er gut aussah. Sondern weil er die Länge eines durchschnittlichen Nachthemdes aufwies. Denn ich habe gelernt: Manche Rollkragen-Pullover heißen Rollis, weil sie hochrollen.

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

22 Kommentare zu “22 | Nackte Seekühe

  1. Teufel nochmal, es ist ein hartes Leben.

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  2. Klingt schon sehr desilussionierend. Dabei sah es bestimmt lustig aus, wie du mit angewinkelten Armen vor dem Regal gehüpft bist 😉
    Übrigens: Falls du neue BHs kaufst, schau nach der Marke mit dem Krönchen, dann ist mein Gehalt noch eine Zeit sicher

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  3. …Jogginghose bis unter den Busen…geht auch 😉 …und der Spot ist Hammer

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  4. Danke für deinen wunderbaren Humor 🙂

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  5. Da fällt mir was ein…Meine Bauchweg-Hemdchen rollen sich auch gern nach oben. Es heißt also „Formwäsche“ weil der Körper sie zu Wülsten umformt…

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  6. Jaaaaaaaaaa genau, ich konnte mir das sooo gut vorstellen. Super lustig geschrieben! Ich hab auch zahlreiche Strickartikel in Knielänge um niemanden zu traumatisieren der nicht explizit darum gebeten hat 😉 Ich hätte da die Farben “Schwarzer Schimmel”, “Grauschimmel” und “Gammeliger Pfirsich” … und ich liebe sie alle. Manchmal zählt eben einfach der Komfort!

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  7. Hervorragend geschrieben – dank für die Inspiration im Hirn 😀 Wirklich sehr bildhaft und dein Humor ist klasse 😀

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  8. Danke für diesen absolut amüsanten Beitrag und die Bilder in meinem Kopf, die ich wohl so schnell nicht mehr los werde 😀

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  9. Ich konnte nicht anders, ich habe Dich und Dein „Nichts“ für den Liebster Award nominiert … Mehr Infos:
    http://criticalpixie.com/2016/01/15/criticalpixie-und-der-liebster-award/#more-4482

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  10. Ich habe mich köstlich amüsiert beim Lesen und sehe mal kurz nach den geheimen Nougatvorräten in meiner Speisekammer. Nur so, zur Kontrolle, Qualitaetskontrolle 😉 Das Bild vom hungrigen, erfreut glucksenden Baby angesichts des Blumen- BHs werde ich jetzt auch nicht mehr so schnell los 🙂 Und die geschockten Eltern hatten/hätten dann wohl einigen Erklärungsbedarf gegenüber ihren Kindern 🙂

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  11. Wieder mal ein Beispiel dafür, dass ein wunderbarer, humorvoller, phantasievoll geschilderter Beitrag auch einen Neugierde weckenden Titel braucht. Damit ich ihn finde.

    Es waren schwimmende Kühe, die vor Jahren eine andauernde (Blogger-) Freundschaft begründet haben.
    https://andrea2007.wordpress.com/2007/08/04/schweizer-kuhe-konnen-ubers-wasser-gehen/

    Danke für diesen köstlichen Abstecher in Deine Bürogemeinschaft und das Mitnehmen zum Meeresfrüchteeinkauf.

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