Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

30 | Warum mich niemand als Pflanzensitter will

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Der Ernst des Lebens.
Sobald du auf die Welt kommst, hörst du diese Phrase. Anfangs erzählen sie, der Ernst des Lebens sei die Schulzeit. Danach behaupten die Erwachsenen, der Ernst des Lebens trete spätestens dann ein, wenn man auszieht.
Was wurden wir vorbereitet für den Auszug: Man lehrte uns Nähen, Stricken, Bohren, Hämmern. Man brachte uns bei, eine Glühbirne nie bei angeschalteter Lampe zu wechseln und nach dem Kochen immer den Herd auszuschalten. Auch etwas von Geld-verdienen und Rechnungen-bezahlen wurde erwähnt (über das „wie“ müssen wir nochmal diskutieren…).
Aber ist man mit diesem Wissen wirklich vorbereitet?

Vor vielen vielen Jahren zog Klein-Roey von zu Hause aus. Mein neues Domizil war zwar nicht größer als ein Wohnklo, dank langer deutscher Ahnenlinie aber zumindest ordnungsgemäß mit Gardinen und Vorhängen bestückt (eure Mütter werden euch sagen, dass die das Wichtigste sind. Kein Kühlschrank? Egal, Vorhänge!). Aber auch ich musste mich erst eingewöhnen…

So besaß ich einen wunderschönen Tritt-Mülleimer in Metallicblau. Anfangs warf ich den Müll artig in den Mülleimer hinein. Doch irgendwann war soviel Müll im Eimer, dass der Deckel offenstand. Dies hinderte mich nicht daran, weiterhin Müll dort abzulegen. Kennt ihr die Szene aus „King of Queens“, wo Doug versucht, eine leere Milchflasche auf einem eh schon völlig überladenen Mülleimer abzulegen? In der Single- und Studenten-Welt nennt man dieses Spiel „Müll-Mikado“.
Ich hatte das Müll-Mikado längst gegen mich selbst verloren, als ein Freund zu Besuch kam. Er schaute irritiert auf den Müllhaufen hinter meiner Küchentür und kommentierte: „Äh, du… Es gibt auch Mülleimer. Schonmal drüber nachgedacht?“ Ich antwortete grunzend: „Ich besitze sehr wohl einen Mülleimer. Du kannst ihn nur nicht mehr sehen!“
Ja, dass man den Müll hin und wieder mal rausbringen muss, ist so eine Sache. Ist aber auch schwierig, wenn man im Erdgeschoss wohnt und die Mülltonne ganze fünf Meter vom Hauseingang entfernt ist!

Auch die Bedienung von Kühlschränken ist im jugendlichen Leichtsinn schwieriger, als so mancher Erwachsene das annimmt. Das fängt schon mit der richtigen Kälte-Einstellung an.
Mein erster Versuch diesbezüglich schlug dahingehend fehl, dass der Gefrierteil meiner Kühl-Gefrier-Kombination lauwarm blieb, während mir beim Öffnen des Kühlschrankes dank plötzlich auftretender arktischer Kälte beinahe die Nippel abgefroren wären.
Doch auch, wenn diese Hürde einmal genommen ist, sind Kühlschränke in manchen Haushalten sehr sonderbare Wesen: Entweder sind sie total leer oder entwickeln sonderbare Eigen-Gerüche, gegen die auch inflationär verteilte Duftbäumchen nichts mehr ausrichten können.
Wie lange das immer dauert, bis man Mutters Lasagne aus dem untersten Fach herausgekratzt hat… Dabei stand die doch kaum drei Monate dort!

Auch mit Topfpflanzen wollte es bei mir nie so recht klappen.
Ich hatte mir zur Unterstreichung der Heimeligkeit meines Wohnklos nämlich einige Zimmerpflänzlein zugelegt.
Die meisten Topfpflanzen in deutschen Haushalten sterben ja bekanntermaßen am Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.
Nicht so bei mir. Wer bei mir wohnt, wird mit Liebe überschüttet. Das musste auch mein Kaktus schmerzlich lernen.
Kakteen sind für Singles und sonstige Pflanzenschänder eigentlich die idealen Mitbewohner: Du musst sie nicht gießen, nie die Erde wechseln, im Prinzip musst du gar nichts tun. Je größer die Vernachlässigung, desto höher die Erfolgschance auf prächtiges Wachsen und Gedeihen.
Nun konnte ich aber irgendwie nicht damit umgehen, dass der stachelige Grünling so gar keine Aufmerksamkeit benötigte. Kurzum: Ich habe ihn einmal pro Woche gegossen.
Dabei habe ich wohl völlig ausgeblendet, dass Kakteen normalerweise in staubigen Wüsten (daher auch ideal für Studenten, die putzen schließlich nie) stehen und sich nur hin und wieder ein Tröpfchen Wasser gönnen, welches sie der Luftfeuchtigkeit entwenden.
So kam es, wie es kommen musste: Eines Tages stand ich bedrückt vor meinem stacheligen Freund, welcher an jenem Morgen Selbstmord begangen hatte, indem er erst zusammengefallen und sich dann in grüner Soße erbrochen hatte.
Eine Freundin betrat die Szenerie und begutachtete den länglich-geformten, eingeknickten Kaktus. Sie murmelte nur: „Ach, deswegen bist du immer noch Single…“

Die wahren Geheimnisse des Lebens erklärt einem nunmal keiner. Eltern wollen „nur das Beste“ und lassen dich daher glauben, in einer Wohnung, in der nicht wenigstens einmal pro Woche der Boden gewischt wird, würde die Pest ausbrechen. Alles muss perfekt sein!
Dabei ist das, worauf es wirklich ankommt, Improvisation und Flexibilität! Sobald du ausziehst, ist das erste, was du lernst, dich mit Dingen zu arrangieren: Die eigentlich als Mittagessen vorgesehene Nahrung ist mal wieder schimmelbeflaumt direkt aus dem Kühlschrank an dir vorbeigehoppst und lässt sich auch nicht wieder einfangen? Zum Glück gibt es schon seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte Fertigessen. Zur Zeit des Steinzeitmenschen waren das Früchte und Beeren. Mussteste nicht jagen, mussteste nicht schlachten, mussteste nicht kochen. Besser gings nicht. Mit Hilfe von Früchten und Beeren konnte es selbst der unfähigste Steinzeitmensch auf ein stattliches Lebensalter bringen.
In meiner Generation war das beste Fertigessen überhaupt die Tütensuppe. Da kaufst du dir ein kleines Tütchen mit der Aufschrift „Brokkoli-Suppe“, schüttest gelblich-grünes Pulver in einen Topf, kippst eine vorgeschriebene Menge Wasser dazu und wartest erstmal ab.
Einziges Manko: Wer in der Schule in Physik nicht aufgepasst hat, wird nie verstehen, wieso aus einem zwei Millimeter platten Päckchen plötzlich ein vier Kubikzentimeter großes Brokkoli-Röschen herausploppt.
Macht aber nix! Unwissende Abergläubige drehen einfach für einige Sekunden die Gasflamme etwas höher. Denn was haben wir im Geschichtsunterricht übers Mittelalter gelernt? Gegen schwarze Magie hilft Feuersbrunst!

Improvisation ist auch in anderen Lebensbereichen stets gefordert.
Erkundigt euch mal bei sehr jung ausgezogenenen Menschen, wie viele Alternativen zu Klopapier ihnen bekannt ist. Denn auch das ist eine der häufigsten Hürden, die jeder frisch Ausgezogene zu nehmen hat: Das Klopapier ist längst alle, aber die Natur ruft.
Die gängigsten Varianten von Klopapier sind wohl Zeitungspapier, Küchen-/Taschen-/Kosmetiktücher, Hartgesottene verwenden aber auch Notizblätter oder Buchseiten („Ich konnte die Hausaufgaben nicht machen, das Kapitel fehlt in meinem Buch seit letztem Sonntag…“).
Es interessiert mich wirklich, wie die jetzige Generation von eBook-Lesern solche Probleme zukünftig meistern wird? So ein Smartphone ist schließlich etwas zu teuer für jedwede Zweckentfremdung und wasserdicht bekanntlich auch nicht…

Als Frisch-Ausgezogener habe ich lange mit Stolz verkündet, handwerklich begabt zu sein. Bis der erste Besucher sich an eine Wand lehnte und danach drei Tesa-Streifen am Rücken kleben hatte.
Ja was, wenn ihr ein Loch an falscher Stelle gebohrt habt, klebt ihr dann da keinen Tesa drüber und malt das mit Tipp-Ex weiß an, damit es keinem auffällt?
Man erläuterte mir kopfschüttelnd: Derartige Handlungen wären nicht einmal des Begriffes „Flickschusterei“ würdig, geschweige denn, dass man von handwerklicher Begabung sprechen könne. Ich solle mich doch lieber als „kreativen Improvisationsliebhaber“ bezeichnen. Oder es notfalls direkt als Kunst abtun.

Auch erwähnte mal jemand beiläufig, dass man für nasse Wäsche eigentlich einen Wäscheständer erwirbt und nicht seine Heizung als „Quick-Dry-Place“ bezeichnet.

Aber so ist das eben. Und das ist es, was man eigentlich erlernen sollte: Entdecken und Improvisieren.
Leider bringt einem Mutti das nicht bei. Oder habt ihr schonmal den Satz gehört: „Danach kochst du den Blumenkohl auf Stufe 3. Wenn du aber kein Geld für Blumenkohl hast oder der gekaufte Blumenkohl im Kühlschrank mal wieder in den Zersetzungszustand übergegangen ist, kannst du auch am Rand des Bürgersteigs Löwenzahn pflücken…“
Das ist wohl etwas, das man selbst lernen muss. Aber das passiert zum Glück ja zwangsläufig von alleine.

Mittlerweile sind seit meinem Auszug fast zwölf Jahre vergangen und ich habe mich mit dem Erwachsensein arrangiert. In meiner Küche findet man keine Müllkippen mehr und für falsch gebohrte Löcher verwende ich Schnellspachtelmasse aus der Tube.
Dennoch habe ich mein Improvisationstalent nie ganz abgelegt.
Kürzlich war ich zu Gast in einer kleinen Runde, die sich über veraltete Technik ausließ. Das Thema: PS/2-Computerkabel. Der Gastgeber ulkte, kein Mensch hätte heute noch ein PS/2-Kabel, wären doch alle Mäuse und Tastaturen längst dem USB-Standard zum Opfer gefallen. Da musste ich dann aber doch eine Lanze brechen: „Also ich benutze PS/2-Kabel noch! In meinem Badezimmer hängt seit über sieben Jahren ein PS/2-Kabel, das den Duschvorhang über der Wanne hält!“

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

33 Kommentare zu “30 | Warum mich niemand als Pflanzensitter will

  1. Erwachsen werden ist ein einziger Hürdenlauf. Dank Deiner Auflistung weiß ich jetzt genau, was ich meinen Kindern nicht beibringe (diabolisch grinst)…

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  2. Ah herrlich. Ja einiges davon kenne ich auch. Improvisation ist alles. Und das mit dem Müll der den Mülleimer versteckt…ja das kenne ich auch…wobei ich mir dieses auch abgewöhnt habe…bzw mein Hund hat mir beigebracht das man den Müll raus bringt….sonst liegt der Müll überall aber nicht mal annähernd in der nähe des Mülleimers 🙂

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  3. Toll geschrieben. Macht Spaß zu lesen und man erwischt sich ständig beim Nicken. Gut, dass ich einen Mitbewohner habe der sich um alles kümmert 😉

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  4. tje…:Defizite werden deutlich, wenn die Kids ausziehen, musste auch ich feststellen….;-) wenn man Dinge lange genug ignoriert, sieht man sie nicht mehr…..wurde mir erklärt;-))

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  5. Sehr schön…so richtig aus dem Leben 🙂
    Liebe Grüße, Kerstin

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  6. Köstlich!! Super unterhaltsam geschrieben – dooferweise habe ich mich in vielen wiedererkannt :-O

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  7. Eine gute Alternative zu Tesa & Tipex ist Zahnpasta! Der Vorteil: wenn man nah genug an der Wand steht verströmt es einen leicht minzigen Duft! 😉

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  8. Ich habe eifrig gegrinst. Und muss mich nun nicht mehr schämen, denn auch wenn ich nah dem Auszug einigermaßen ordentlich war: Das mit dem Müll kenn ich auch. Gut. *hust*

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  9. Müll-Mikado 🙂
    Fällt mir mein erstes eigenes Wohnklo wieder ein. Alles reguliert sich mit der Zeit. Die allerdings verschieden lang sein kann. Heute besteht in meiner/unserer Heimstatt keine akute Seuchengefahr mehr, geblieben ist jedoch ein gemeinsam geteilter Hang zur Improvisation. Wohnen ist bei uns ein wenig wie Camping, das PS/2-Kabel fände hier auch einen späten Sinn.

    Fein geschrieben 🙂
    Grüße aus dem Tal der Wupper!

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  10. Damals, zu meinen Wg-Zeiten, habe ich meinen Kaktus auch regelmäßig gegossen. Es war etwas eigenartig das irgendwann Schimmel im Topf zu sehen war. Konnte ja niemand ahnen, dass das doofe Ding aus Kunststoff war…….. 😀

    Toller Text. Hat viel Spaß gemacht zu lesen!

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  11. Wenn ich eines Tages den Ernst des Lebens kennen lerne soll man über mich sagen, dass ich zu Zeiten von Giganten lebte, zur Zeit von Hektor dem Pferdebezwinger, zur Zeit von Achilles …, ach ja, was ist denn eine laaaaange Ahnenreihe? 😉

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  12. Große Hürde für mich: Wäsche rechtzeitig waschen. Schon mal in einer feuchten Jeans geschlafen, damit sie bis zum morgen durch Körperwärme trocknet?

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  13. Schöner Artikel.
    Dazu kommt ein angenehmer Nebeneffekt: dass sich unter den Gravatars jede Menge interessanhte Gesellschaft mit schönen Blogs eingefunden hat.
    Liebe Grüße an alle,
    Alexandra

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  14. Soo toll. PS/2 Kabel als Wäscheleine. Gute Idee. Armes Bluetooth Volk

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  15. Improvisation, Schöpfertum gemischt mit einem guten Schuss Gleichgültigkeit lassen einen Freude am Alltag haben…

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  16. Die Kaktus-Story kommt mir irgendwie bekannt vor. 😀

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  17. Hallo,
    ich habe Deine Fragen zum „Liebster Award“ beantwortet. 😀
    Schau doch mal hier:
    https://hilfefuermiranda.wordpress.com/2016/03/06/liebster-award-4/

    LG
    Susanne

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  18. Hab mich schiefgelacht ! Super ! L.g.Anja

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  19. Also ich muss gestehen, bevor ich ein armes, unschuldiges Buch zerfledder würd ich lieber den nicht vorhandenen grünen Daumen zur Lösung des Klopapierproblems heranziehen (natürlich abhängig von Giftigkeit der betroffenen Ex-Pflanze) ^^

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  20. Sehr witzig geschrieben 🙂 Das mit den Gardinen stimmt wirklich 😀

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  21. … das ist aber mal eine Lieblingsjeans… ;-D

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  22. Pingback: 80 | Die Prinzessin und das Glitzerschloss | Roe Rainrunner

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