Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

32 | Der Spinnen-Kindergarten

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Eine laue Nacht.
Über mir der Mond. Ich kann nicht schlafen. Meine Gedanken kreisen…
Seit einer ganzen Weile schon beobachte ich eine winzige Spinne, die sich an einem Spinnfaden von meinem Monitor abseilt. Von ihren acht Beinen wirken die beiden Vorderen etwas kürzer. Sie sehen weniger nach Beinen aus, sondern eher nach Hörnern. Eine Widder-Spinne? Sie ist noch ganz klein. Vermutlich ein Baby.
Ich gähne gelangweilt, stehe auf und gehe zum Fenster.

Immer, wenn ich durch meine Wohnung gehe, frage ich mich, wie sich das für meine Nachbarin unter mir anhört.
Ich wohne im obersten Stockwerk, niemand lebt über mir. So „trampele“ ich jemandem auf dem Kopf herum, wenn ich gehe. Aber niemand trampelt auf meinem Kopf herum.
Interessant, dass man sich über sowas Gedanken macht. Bewegen muss man sich wohl.
Ausgerechnet jene Nachbarin unter mir neigt dazu, unter der Woche lautstarke Partys zu feiern und dann entsprechend betankt nachts um 02:00 Uhr den Bon-Jovi-Song „It’s my Life“ zu gröhlen. Während ich jedesmal mit verquollenen Augen über ihr im Bett wachliege und mir der Ironie bewusst werde, dass es nie nur ihr „Life“ ist, weil sie auch an meinem „Life“ beteiligt ist oder dieses in irgendeiner Form tangiert. Zum Beispiel durch vom Alkohol getränkten Trällergesang…

Ich gehe vom Fenster zurück zum Schreibtisch.
Mittlerweile turnen drei kleine Spinnen an langen Spinnfäden mehr oder minder grazil an meinem Monitor herum.

Vielleicht hat sich der Gesang meiner Nachbarin aber auch bald erledigt. Immerhin ist sie mir letztens im Treppenhaus zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt begegnet…
Klein-Roey hatte frei und befand sich daher in nicht-sozialisiertem Zustand: Die verwaschene Jogginghose rutschte dank ausgeleiertem Gummibund missmutig auf meiner Hüfte, das ärmellose Shirt legte meine Oberarm-Tättowierung frei, meine Augen waren auf Halbmast gehisst und meine Haare… naja, sagen wir, ich hatte Haare. Das Treppenhaus eines Altbaus ist nunmal kein verdammter Catwalk.
Während ich grummelnd zwei Müllbeutel wie Leichensäcke hinter mir herzog, fluchte ich leise vor mich hin, weil Müll-Runtertragen bekanntermaßen nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung ist.
Die „It’s my Life“-Nachbarin betrat die Szenerie und musterte mich teils erschrocken, teils angewidert von oben bis unten. Als ich sie entdeckte, setzte reflexartig meine Notfall-Sozialisierung ein und ich hätte beinahe gelächelt und freundlich gegrüßt. Aber das wäre wohl keine gute Idee gewesen. Stattdessen schaute ich gespielt noch grimmiger, während ich mir hochnäsig dachte: ‚Siehste mal, this is MY Life, jawoll!‘
Seit dieser Begegnung ist meine Nachbarin auf dem besten Weg, ein guter Mensch zu werden. Denn Menschen, die mich merkwürdig finden, halten sich von mir fern. Menschen, die sich von mir fernhalten, können nicht nerven. Und Menschen, die mich nicht nerven, sind gute Menschen!

Die Spinnen-Kinder kraxeln fröhlich weiter am Monitor herum. Mein Mail-Programm scheint sie besonders zu interessieren. Der Hintergrund des Programms ist weiß und damit der hellste Teil des Monitors. Vermutlich zieht sie das an.

Mir kommt plötzlich wieder der Satz des Terry-Pratchett-Fans in den Kopf: „Natürlich ist die Welt eine Scheibe. Wie sonst würde sie auf den Rücken der Schildkröte passen?“
Ach ja, Terry Pratchett. Gevatter Tod ist lustig. Überhaupt der Sensenmann, das klassische Bild des Tods.
Stellt euch mal vor, es gäbe nicht einen Sensenmann für alle Menschen, sondern jeder Mensch hätte seinen eigenen Sensenmann, der ihn immer und überall begleitet. Wenn wir in der Nähe einer vielbefahrenen Straße stolpern oder uns zu weit aus dem Fenster lehnen, wetzt unser Tod grinsend die Klinge seiner Sense. Nur um, wenn wir dann doch überleben, die Klinge wie ein Taschenmesser wieder einschnappen zu lassen und dabei kurz zu grummeln.
Und Menschen, die doch verunglücken? Vielleicht hat bei denen nur der Schutzengel kurz eine Raucherpause gemacht?
Dürfen Schutzengel rauchen? Rauchen kann tödlich sein, das beißt sich doch eigentlich mit der Funktion der Lebenserhaltung?
Stellt euch mal vor, immer, wenn wir uns freudig nach einer gefunden Münze bücken, nutzt unser Tod die Gunst des Moments, um mit seiner Sense nach unserem rauchenden Schutzengel zu angeln. Der natürlich dank jahrelanger Erfahrung geschickt ausweicht und dem Tod nur hämisch grinsend den Mittelfinger zeigt. Sobald wir mit der erbeuteten Münze lächelnd wieder hochkommen, legen die beiden neutrale Gesichtszüge auf und pfeifen unschuldig vor sich hin.
Welche Zigarettenmarke so ein Schutzengel wohl raucht? Bestimmt irgendwas mit Menthol…

An meinem Monitor hat sich mittlerweile eine ganze Spinnen-Krabbelgruppe versammelt. Mir wird das Ganze doch etwas zuviel, denn ich kann vor lauter Gewusel die Buchstaben auf dem Monitor kaum noch lesen.
Ich taste vorsichtig nach den Spinnfäden, siedele die eifrigen Kletterer an meine Schreibtischlampe um und schalte sie ein. Sie können ja auch dort nach „Hell“ krabbeln und ihre Fädchen spinnen.

Ich erinnere mich an den Dialog, den ich kürzlich mit meinem guten Freund führte…
„Und, will der was von dir?“ – „Weiß nicht. Aber wenn, sollte er erst ein Bewerbungsformular ausfüllen!“ – „Was?“ – „Na, bevor ich mit ihm Sex habe! Würde so ein Fragebogen das Leben von Singles nicht bedeutend einfacher gestalten? Dort stünden dann solche Angaben wie ‚Körpergröße, Gewicht, Länge des Penis im passiven Zustand, Länge des Penis im aktiven Zustand, Beschnitten ja/nein, Lieblingsverhütungsmittel,…‘ Und vielleicht noch so etwas wie ‚Körperliche Unzulänglichkeiten‘.“ – „Körperliche Unzulänglichkeiten?“ – „Na, du weißt schon. Ist er Gebissträger, hat er ein Holzbein, sind seine Hoden asymetrisch. Solche Dinge eben.“ – „Du bist aber schon oberflächlich?!“ – „Nein, ich würd’s nur gern vorher wissen wollen. Stell dir mal vor, du nimmst eine attraktive Frau mit nach Hause und an deiner Bettkante demontiert sich die Gute: Perücke runter, falsche Wimpern ab, gefärbte Kontaktlinsen raus, Gebiss aus dem Mund, BH-Einlagen weg, Bauch-weg-Unterwäsche runter und Bein-Prothese ab. Unvorbereitet versaut einem sowas doch total die Stimmung…“ Er grunzte nur, als hätte er so etwas vor nicht allzu langer Zeit bereits erlebt.

Sex mit einem Gebissträger. In meinem Alter zum Glück noch kein Thema. Aber wenn es soweit ist… Gebiss lieber rein oder raus?
Ich stelle mir vor, wie wir es in Missionarsstellung treiben, dem Herrn im Eifer des Gefechts die Dritten aus dem Mund gleiten und diese dann zuschnappend in meine Nase beißen. „AAAIIIH!“ – „Oh ja, pfindefft du eff auch ffo geil wie iff???“
Dann vielleicht doch lieber rausnehmen…

Ich will gerade den letzten Amateur-Krabbler an die Schreibtischlampe umsiedeln, als hinter meinem Monitor eine riesige Spinne an der Wand nach oben krabbelt. Sie ist ein exaktes Ebenbild der kleinen Spinnen. Die Widder-Spinnen-Mama?
Ihre Körperhaltung lässt mich annehmen, dass sie über mein Verhalten nicht gerade erbaut ist. Ich spüre förmlich, wie sie zetert: „Sag mal Mensch, bist du komplett irre? Die Babys lernen hier an deinem Monitor unter meiner mütterlichen Aufsicht das Klettern und was machst du?? Hängst sie einfach an die Schreibtischlampe?! In zwei Stunden gibt’s Essen. Bis dahin sind die doch nie und nimmer von der Schreibtischlampe über den Tisch heimgekrabbelt!“
Haben Spinnen-Mütter eigentlich einen ausgeprägten Beschützerinstinkt? Besser nichts riskieren. Ich hänge die Babys vorsichtig wieder zurück an den Monitor und gehe ins Bett.

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

27 Kommentare zu “32 | Der Spinnen-Kindergarten

  1. Iff finde daf toll daff Du fo tierlieb bifft.

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  2. :D:D:D:D:D über was du dir so gedanken täglich machst und drüber nachdenkst………. fantastisch… unbezahlbar

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  3. Da sich Engel nur der Projektion eines leiblichen Körpers hingeben aber keine tagtäglichen Organe (jupp auch die nicht) haben, können Sie rauchen was sie wollen.

    Vermutlich dann aber irgend so einen Bio Veganer Tabak aus eigener Achseldüngung. Soll ja gut sein was man tut.

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  4. … von der spinnenden Krabbelgruppe über die Beziehungsprobleme des Sensemannes und deines Schutzengels zu den Qualitäten von zahnlosem Beischlaf zu kommen, ist leicht irritierend… ich geh mir dann jetzt mal den Pandabärenlook richten ROFL

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  5. Sehr schöne Geschichte. Ich habe daraufhin auf meinem blog die Geschichte „Die Wespenspinne“ veröffentlicht. https://joerghellmannblog.wordpress.com/

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  6. Asymetrische Hoden beim Gebissträger…uiuiui…

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  7. Gruß aus dem Tal der Wupper!

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  8. Spätestens bei der Mama Spinne wäre ich umgezogen… und allein dafür, dass Du Terry Pratchett erwähnst, Musste ich gefällt mir drücken. 😁

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  9. Dürfte ich bitte Terry Pratchetts Rattentod in Erwähnung bringen? *schlapplach* Nur weil du die Tode individualisierst …
    Liebe Grüße
    Christiane 😉

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  10. ich nehme an, die spinnen sind getarnte spione. die wollten deine post lesen 😉
    über: „ich hatte haare“ könnt ich mich weglegen vor lachen. danke!!

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  11. ich kann jetzt NIE wieder den Abfall einfach wegbringen, ohne über meinen Schutzengel nachzudenken……über Zahnersatz o.ä. ;-))))

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  12. Du solltest mal meine Wanzen (wenns welche sind?!?) sehen, die auf meinem Balkon krabbeln. Super Texte, die ich hier heute Abend gelesen habe. Echt viel gelacht! Mehr will! Lg

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