Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

33 | Große Jungs weinen nicht

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Ich hatte Keuchhusten.
Zumindest lag in Anbetracht des Getöses, welches ich erzeugte, der Verdacht sehr nahe.
Da meine Mutter unpässlich war, überreichte sie das kränkelnde Kind seinem Vater, mit dem Befehl, dieses Richtung Kinderarzt zu befördern.

So saßen wir also im Wartezimmer von Dr. Meyram, zu einer Zeit, als Väter in solchen Räumlichkeiten eher selten zugegen waren.
Bereits bei der Anmeldung hatte die Sprechstundenhilfe meinen Vater suchend zur Seite geschoben, um zu sehen, wo sich denn die Mutter dieses elternlosen Kindes befände.
Im Wartezimmer beäugten uns die Mütter der anderen Kinder kritisch. Die Szene glich ein wenig einem Wasserloch, an dem sich auf der einen Seite hungrige Löwen breitgemacht hatten und auf der anderen Ufer-Seite ein Gnu seinen Durst stillte.
Bevor sie meinen Vater in Stücke zerreissen konnten, wurden wir aufgerufen.

Nach kurzer Untersuchung kommentierte der Arzt, dass zur genauen Diagnose eine Blutabnahme vonnöten sei.
Bei diesem Ausspruch erstarrte mein Vater.
Was war los? Ich hatte ihn nie zuvor so gesehen!

Nun muss man dazu wissen, dass mein Vater ein Kerl von stattlicher Statur ist, was sowohl Länge als auch Breite angeht. Er arbeitete in einem Beruf, der gern mal in einem Satz mit dem Begriff „gestandene Männer“ verwendet wurde.
Was also verstörte ihn?

Der Arzt schickte uns ins Nebenzimmer, wo eine freundliche Schwester sich an meinem Arm zu schaffen machte.
Mein Vater murmelte entsetzt: „Kind, gugg nicht hin!“ Erstaunt entgegnete ich: „Aber ich will doch wissen, was jetzt passiert!“ Die Schwester lächelte mich aufmunternd an. „Erstmal müssen wir dieses Band um deinen Arm machen und du musst ganz feste diesen Ball drücken. Dann sammelt sich ganz viel Blut…“ – „Ah!“ – „… in deinen Adern und dann können wir mit dieser Nadel…“ – „AH!“ – „… in deinen Arm stechen und…“ – „AAAH!“ – „Papa!!!“
Er atmete schwer.
Die Schwester ignorierte ihn gekonnt und nahm die Nadel, während ich ihr neugierig zusah. Mein Vater drehte sich entsetzt zur Seite und röchelte lautstark. „Alles voller Blut!“ – „Nein, Papa. Nur in dem Röhrchen.“ – „OH GOTT, DAS RÖHRCHEN IST VOLLER BLUT!!!“

Zehn Minuten später hüpfte ich quietschfidel – wenn auch weiterhin mit Hurricane-artigen Auswürfen meiner Lunge – aus der Praxis. Gefolgt von den wackeligen Schritten meines noch immer bleich aussehenden Vaters.
Wir hielten beide je einen Traubenzucker-Lutscher in der Hand, den uns die Schwester geschenkt hatte, weil wir so tapfer gewesen waren!

Ich war damals erst acht Jahre alt und hatte noch nicht verstanden, dass manche Menschen kein Blut sehen können. Ich selbst hatte dieses Problem ja offensichtlich nicht.
Erst, als ich etwas älter war, verstand ich…

Ich kehrte vom Spielen heim und traf meine Eltern auf der Couch an, wo sie sich ihre geliebten Arzt-Serien reinzogen. Mein Vater hielt sich gerade beide Hände vor’s Gesicht und rief hysterisch: „SIND SIE JETZT FERTIG?“, während meine Mutter sich gelangweilt eine Handvoll Erdnüsse in den Mund schob und mümmelte „Nein, sie schneiden noch an ihm rum.“ – „WAAAH!“ – „Ich sag dir, wenn du wieder guggen kannst.“
Ich blickte meine Mutter fragend an. „Na, dein Papa kann doch kein Blut sehen!“
Wie gut, dass ich das nicht von ihm geerbt habe. Als Frau sieht man immerhin einmal pro Monat Blut…

Als ich 13 Jahre alt war, wurden mir die Weisheitszähne aus dem Kiefer geschnitten. Das Gebiss war viel zu klein, die Zähne viel zu groß und wären sie in diesem Zustand herausgekommen, wären alle anderen Zähne aus Reih und Glied gesprungen.
Den ersten Termin hatte ich hinter mir, die beiden unteren Zähne waren entfernt worden und dank der Backen-Schwellung sah ich aus wie ein Hamster.

Leider kündigte sich bei einer der Wunden eine schmerzhafte, drückende Entzündung an. Und es war Freitag.
Wir überlegten, ob wir doch noch abwarteten, dann aber ggf. riskierten, am Wochenende ins Krankenhaus fahren zu müssen oder ob wir den Kieferchirurgen gleich kontaktieren sollten.
Wir riefen an und durften trotz fortgeschrittener Stunde noch vorbeikommen.

Mein Vater brauste mit mir in die Stadt, wo sich die Praxis befand.
Beim Betreten derselben war es unnatürlich still: Kein Mensch war zu sehen.
Der Arzt kam um die Ecke und begrüßte uns erklärend: „Alle Mitarbeiter sind schon zuhause. Ich hatte selbst gerade gehen wollen, als mich ihr Anruf erreichte.“
Ich fand es total lieb, dass er extra wegen mir geblieben war und sich Zeit nahm.

Wir trabten alle drei ins Behandlungszimmer, wo ich Platz nahm und das übliche Papier-Lätzchen bekam. Der Kieferchirurg schaute prüfend in meinen Mund, während mein Vater deutlich entfernt vom Behandlungsstuhl in der Ecke stand.
„Das habe ich mir gedacht. Es hat sich ein Abszess gebildet. Den muss ich leider mit einer Nadel aufstechen, damit das Wundsekret abfließen kann. Danach muss die Wunde noch desinfiziert werden. Das könnte jetzt etwas unangenehm werden.“

Hach, wenn Zahnmediziner sagen, dass irgendwas unangenehm werden könnte, findet man sich meist einige Sekunden später brüllend vor Schmerzen mit irgendeiner Gerätschaft im Mund wieder und fragt sich, ob man bei Doktor Frankenstein gelandet ist.

Der Kieferchirurg bereitete die Instrumente vor und schnappte sich den Sauger. Ruckartig zerrte er meinen Vater am Ärmel an den Behandlungsstuhl und kommandierte „Hier, Sie müssen den Sauger bedienen. Die Schwestern sind nunmal nicht mehr da!“ – „Was? Nein, auf keinen Fall! Er kann kein Blut sehen, der dreht doch durch! Geben Sie mir einen Spiegel und den Sauger, ich mach das selbst!“ rief ich. Leider verstand man aufgrund der Wattebäusche in meinem Mund nur: „Mhggngghghgnnngnghghghghgh!!“
Mein Vater selbst war so geschockt, dass er überhaupt nichts sagen konnte.

Der Arzt fackelte nicht lange, zog die Hand meines Vaters an mich ran und legte los. Er stach mit der Nadel zu und ich konnte fühlen, wie sich die Wunde öffnete. Wie es aussah, konnte ich mir nur vorstellen…
Ich schaute nervös zu meinem Vater. Seine Augen drehten nach hinten ab und man konnte nur noch das Weiße sehen. Er kippte langsam vom Stuhl ab. Seine Hand rutschte ebenfalls weg und der Sauger hing gurgelnd und schnorchelnd an meiner Backe.
Oh Gott. Ich sah in Gedanken, wie dieser riesige Mann ohnmächtig umfiel und dabei medizinisches Equipment in hohem sechsstelligem Bereich zerstörte.

„Herr Rainrunner! Sie müssen sich schon konzentrieren!“ herrschte der Arzt meinen Vater an, ohne von mir aufzublicken. Er zog die Hand meines Vaters mit dem Sauger wieder zu meinem Mund.
Mein Vater fing sich tatsächlich wieder, doch er blinzelte hektisch, atmete schwer und röchelte.

Ich hatte immense Schmerzen. Es drückte, es brannte. Aber ich schaute nur zu meinem Vater, der immer noch schluckte und irgendwie versuchte, gleichzeitig den Sauger richtig zu halten und trotzdem nicht in meinen Mund hineinsehen zu müssen.
Er schluckte. Und schluckte wieder. Und nochmal.
Oh nein! Er würde nicht nur ohnmächtig werden und dabei die Praxis-Einrichtung zerstören. Er würde uns dabei auch noch alle vollkotzen!

Als ich gerade dachte, das mein Vater endgültig die Kontrolle verlieren würde, murmelte der Arzt: „So, fertig.“
„OH MEIN GOTT, ENDLICH!“ brach es aus meinem Vater heraus.
Ich habe noch nie einen Menschen so erleichtert aus einem Behandlungszimmer rausstürmen sehen, der gar nicht behandelt worden war!

Kurz darauf gingen wir zurück zum Parkplatz.
„Ist alles in Ordnung? Geht es dir etwas besser? So schlimm war die ganze Sache im Nachgang doch gar nicht, oder? Alles wieder gut? Sollen wir direkt nach Hause fahren oder möchtest du lieber nochmal um den Block gehen?“
Mein Vater schniefte: „Lieber noch etwas frische Luft schnappen…“

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

31 Kommentare zu “33 | Große Jungs weinen nicht

  1. Wie mia in Bayern sogn daddan: a gstandnes Mannsbuid… 😀
    Letztenendes war er doch wirklich sehr tapfer!

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  2. Toll geschrieben….ich grinse immer noch;-)

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  3. Ich liebe deinen Schreibstil so ….
    Ich komm immer aus dem Kichern kaum noch heraus.
    Würde mir aber vermutlich kein bißchen anders gehen, als deinem Vater….
    Danke 🙂

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  4. Ich kann es deinem Vater so nachfühlen, der Arme! Mir wird schon schwindlig, wenn ich beim Tierarzt zuschaue wie meine Katze chiropraktisch durchgeknetet wird – ich mag einfach keine Arztbehandlungszimmer. Ein Abszess im Mund ist natürlich auch kein Spaziergang, aber wir Frauen halten halt einfach viiiiel mehr aus 😉

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  5. Ich freue mich immer wieder darauf, etwas von dir zu lesen 🙂
    LG

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  6. Die Mütter haben deinen Vater nicht kritisch beäugt, die haben sich gefragt warum ihr Mann nicht mit dem Kind zum Arzt gegangen sind 😉 Dir frohe Osterfeiertage 🙂

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  7. Ne staatse Mann. 🙂
    Ich lag lachend unterm Tisch, vor Allem weil sich die Rollen so herrlich verkehren. Aber ich kann es deinem Vater nachfühlen. Was mich selbst angeht, finde ich Blutabnahmen und co. ja ausgesprochen spannend. Bei anderen Menschen laufe ich auch lieber schreiend weg. *g*

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    • Ich hatte mal eine Schwester, die mir beim Blutabnehmen erzählte, sie könne kein Blut sehen. Auf meinen irritierten Blick meinte sie „Also… mein eigenes Blut kann ich nicht sehen…“, nur um noch mit irrem Blick hinzuzufügen „Bei anderen ist das überhaupt kein Problem!“

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  8. Herrlich!! Das zeigt uns mal wieder, daß es gut ist, daß Männer keine Kinder bekommen können, die Entbindungskosten würden in die Millionen schnellen, da sie ständig umfallen würden, dabei Krankenschwestern umreissen, Equipment zerdeppern… die Natur hat das klug geregelt… xD

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  9. mehr davon! köstlich! vielen dank und schönste ostern, a.

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  10. :)) aber wenigstens ist der Papa mitgefahren…..MAMA nicht:P

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  11. Das mit dem Blut ist ja so eine Sache. Mein eigenes macht mir nichts. Nicht mal ansatzweise. Aber wenn das Teen sich mal wieder irgendwas aufgeschürft, aufgeschnitten usw. hat, dann wird mir echt flau im Magen. Ich hoffe, ich muss nie was „Schlimmeres“ als Wunden, die sich mit Pflastern behandeln lassen, sehen. Dann geht es mir bestimmt wie Deinem Vater. Sehr tapfer. Aber für die Tochter tut Mann ja sowas. Liebe Grüße, Kerstin

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    • Wobei ich das immer noch interessant finde. Immerhin bedeutet eigenes Blut zu sehen, dass man verletzt ist, was im Körper ja gewisse Panikreaktionen hervorrufen kann. Das Blut von anderen Menschen zu sehen, sollte einem da eher egal sein (natürlich nicht, wenn es liebe Menschen sind).

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  12. da gibts gar nichts zu lachen… ist ähnlich schlimm wie die teuflische männergrippe 😀 — alles brandgefährlich 😀

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  13. … mit Verspätung lache ich um so haltloser… super erzählt!!! LG vom Blumenmädchen 🐻

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  14. Ha ha … köstlich. Ich hab so gelacht.

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