Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

36 | Was der Storch so alles liefert

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Kürzlich habe ich gelesen, dass es in Deutschland mittlerweile wieder mehr Geburten als Todesfälle gibt.
In Anbetracht dessen, was ich schon erlebt habe, frage ich mich allerdings, ob das wirklich eine gute Nachricht ist:
Ein Mann (hoffentlich nicht der Vater), der auf der Straße lieber im Handspiegel gegen seine überstylte Frisur kämpfte, als auf den davonrollenden Kinderwagen zu achten.
Im Supermarkt hielt eine Frau eine Powerpoint-Präsentation und erläuterte unter Verwendung fachmännischer Argumente, wieso es nicht in Ordnung ist, vor dem Abendessen zu naschen. Die Zielgruppe? Ihre dreijährige Tochter, die gerade weinend in Gang 4 Schokopudding auf den Boden schmierte.

Es gibt heutzutage mehr Bücher, Magazine, Zeitschriften, Selbsthilfegruppen und Videos zum Thema Erziehung, als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Dabei sollte die Frage „Wie ticken Kinder?“ eigentlich ganz einfach zu beantworten sein: wir waren doch alle selbst mal Kinder! Der Storch hat uns schließlich nicht erst als Erwachsene unseren Eltern auf die Türschwelle gelegt, statt mit Windel und Nucki, mit Bierflasche und löchriger Jeans.

Wenn man klein ist, sieht die Welt eben anders aus. Wer seine eigene Kindheit nicht mehr in Erinnerung hat, wird sich jedoch schwer damit tun, das nachzuvollziehen.

Bei mir ging es schon los, bevor ich ein Jahr alt war:
Normalerweise beginnen Babys mit etwa sechs Monaten zu krabbeln. Ich war bereits zehn Monate alt und zeigte keinerlei Anzeichen selbstständiger Fortbewegung.
Meine Mutter wandte sich in ihrer Verzweiflung an Freunde, die – wie Menschen eben so sind – vorschnell etwas von „Vielleicht Querschnittslähmung?“ faselten.
Von Panik befallen, initiierte meine Mutter sonderbare, mit Fotoapparat festgehaltene Experimente:
Bild 1: Baby liegt bäuchlings auf Teppich und guggt blöde.
Bild 2: Mutti setzt sich vor Baby und lockt: „Komm, krabbel zu Mama!“ Baby liegt auf dem Bauch und guggt immer noch blöde.
Bild 3: Mutti lockt weiter, während Baby’s Schädel mittlerweile purpurrot leuchtet und das Mündchen sich gefährlich zu kräuseln beginnt.
Bild 4: Existiert nicht.
Der Erzählung zufolge erhob ich in Szene 4 sirenenartiges Protest-Geschrei und forderte, sofort wieder gewendet zu werden, woraufhin meine Mutter den Fotoapparat zur Seite schmiss und diesem Befehl unverzüglich nachkam.

Bei dieser Geschichte schaute meine Mutter mich stets ratlos an und murmelte: „Ich versteh einfach nicht, wieso du nicht krabbeln wolltest!“
Ich schon! Wenn man beim kleinsten Gluckser hochgehoben und rumgetragen wird, ist man doch nicht so dumm, seine Energie für’s Krabbeln zu verschwenden. Da benutzt man die Erwachsenen lieber solange wie möglich als Packesel!

Ich habe das Krabbeln übrigens später doch noch gelernt:
Meine Eltern renovierten gerade das neu erworbene Haus. Zum ersten Mal war es positiv, dass die kleine Pupsmaschine noch nicht krabbeln konnte: Das Baby wurde auf einer Decke geparkt und unter Spielzeug begraben. Alle zehn Minuten wurde ein betreuerischer Blick hinübergeworfen und dann zufrieden weitertapeziert.
Bis… meine Eltern die Decke irgendwann leer vorfanden.
Wie gesagt: Solange die Eltern auf jeden Gluckser reagierten. Taten sie an diesem Tag aber nicht.
Das Interesse am Tapetenkleister war wohl bedeutend größer als die Bewegungsfaulheit, weswegen meine Eltern mich dann aus dem Kleister-Eimer fischen durften (keine Sorge, Tapetenkleister ist ungiftig).
Dummerweise hatte ich mich damit verraten und musste fortan ohne meine Lauf-Sklaven leben.

Als Dreijährige entdeckte ich dann sehr zur Irritation des Elterngefolges meinen Entdeckergeist:
Wo zum Beispiel bleibt das Wasser, nachdem man es getrunken hat?
Kindliche Logik: Eigentlich müsste das Wasser direkt durch den Körper durchlaufen.
So kam es, dass Klein-Roey mit einer Mineralwasser-Flasche in der Hand hocherhobenen Hauptes das Örtchen aufsuchte, nur um fünf Minuten später mit einer halbleeren Flasche durch den Flur zu rennen und dabei zu schreien: „ES KOMMT KEIN PIPI MEHR, DAS WASSER IST EINFACH VERSCHWUNDEN!“
Meine Mutter schob meinen kindlischen Gedankengängen ganz wissenschaftlich einen Riegel vor: Saß man nicht auf der Toilette, machte man sich doch auch nicht in die Hose!
Pah, Spielverderber…

Früher sagten mir meine Eltern auch immer, ich solle zu Kirschen kein Wasser trinken.
Hintergrund ist, dass Kernobst bei Wasserzugabe quillt und man davon Bauchschmerzen bekommen kann.
Diese Information hatte ich jedoch nicht. Also machte ich mir selbst einen Reim darauf: Ich wusste bereits, dass wenn man einen Kirschkern in die Erde setzt und Wasser dazugibt, ein Kirschbaum daraus wächst.
Kindlische Logik: Würde ich versehentlich eine Kirsche mit Kern verschlucken und dann Wasser trinken, wüchse ein Kirschbaum aus mir heraus und ich müsste sterben. Um das zu verhindern, durfte man eben kein Wasser trinken!

Auch dachte ich viele Jahre, dass es nicht „Schiedsrichter“ heißen würde, sondern „SchieLsrichter“. Schließlich schimpfte beim Fußballguggen immer jemand über den Schiri: „DER SCHIELT DOCH!“

Als ich etwas älter wurde, nahm mein Vater mich in der Ferienzeit aus Ermangelung sonstiger Kinderbetreuung mit zur Arbeit. Ich durfte auf seinem riesigen Drehstuhl sitzen und auf der Schreibtischunterlage herummalen.
Ich verstand aber definitiv nicht, wie man als Erwachsener mit nur zwei Kugelschreibern (auch noch beide blau!), einem Leuchtmarker und einem Edding den Tag übersteht. So konnte doch kein Mensch vernünftig malen?!

Entgegen aller Erziehungs- und Kinder-Ratgeber darf ich euch berichten, dass ich trotz Krabbel-Verzögerung heute genauso sicher laufe wie Gleichaltrige und ungeachtet meines Mineralwasser-Experiments auch außerhalb von Badezimmern Flüssigkeiten zu mir nehme.
Nur die Tatsache, dass erwachsene Menschen ihren Tag im Büro ganz ohne Buntstifte rumbringen müssen, fällt mir weiterhin schwer zu akzeptieren…

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

31 Kommentare zu “36 | Was der Storch so alles liefert

  1. das man wenn man kirschen isst, und versehentlich einen kern verschluckt, dieser im magen zum baum mutiert…. DIESE THESE HATTE ICH AUCH NICHT GEHÖRT…. muhahahahahahaha. der war gut.

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  2. Sehr launig geschrieben – danke für die Lacher 😉

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  3. Muahahaha … Die Pointe finde ich super. 🙂 Aber ich kann die zitierte Mutter aus dem Supermarkt ja verstehen: Kinder kämen für mich erst dann in Frage, wenn die sich mit Powerpoint beeindrucken ließen. Was fällt den kleinen Querulanten eigentlich ein, sich so renitent einem Argument zu verweigern? 😉

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  4. Elterngefolge… ich lach mich schlapp. Vielen Dank fürs Lächeln an diesem unsonnigen tag.
    Liebe Grüße, a.

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  5. … krabbeln fand meine Tochter auch fad, war sie denn ein Tragling in einem unglaublich farbenfrohen Tuch… erst als der Notarzt für die verpeilte Mutter kommen musste wurde an der Gewohnheit gearbeitet… ;-D

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  6. cool wie Du schon als Baby alles durchschaut hast!!!!!

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  7. Ich glaube weniger, dass es das Eltern als Packesel nutzen war, als keinen größeren Drang die Welt zu entdecken. Was auch nicht ungewöhnlich ist. Manche lassen sich halt einfach Zeit. Oder haben einfach noch nicht die körperlichen Voraussetzung, zum Krabbeln brauchts schliesslich Muskeln. Madam ist im übrigen ein Tragling (so wie es die Natur vorgesehen hat), rollte allerdings mit knapp 8 Monaten munter durch die Gegend (die Muskelmasse fürs Krabbeln hatte sie dann mit 9 1/2 Monaten und fing dann auch gleich mit Hochziehen an). Und ehrlich gesagt, man sollte eben nicht auf die Erziehung seiner Eltern schauen. Die passt eher bedingt bis gar nicht auf die eigenen Lebensverhältnisse.

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  8. Das mit den Erziehungsratgebern stimmt. Schrecklich. Bei uns war gerade erst wieder Elternabend und der Deutschlehrer des Teens meinte doch, mein jugendlicher Mitbewohner sei noch sehr kindlich und hätte Probleme mit den Vorgaben bei der Textanalyse und könnte zwar super argumentieren, aber fände eben immer wieder etwas. Meine Antwort war dann auch klar: Kinder sollten eben auch die Möglichkeit haben, Kind zu sein. Auch wenn es Teens sind und die Schule alle gern ein Muster pressen will. Liebe Grüße, Kerstin

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    • Pfff, erinnert mich an „Wie hast du das denn berechnet?“ – „Das hat mir meine Mutter erklärt“ – „Der Rechenweg ist aber nicht korrekt!“ – „Aber das Ergebnis stimmt doch?!“
      Oder „Wie strickst du denn?“ – „Das hat mir meine Mutter beigebracht“ – „So stricken wir aber nicht“ – „Aber es wird doch ein Pulli daraus!“
      Muahahah 😀

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  9. Liebende röhrende Regenrennerin

    Ein anrührendes Bekenntnis zu Deinem voll ins Erwachsensein hinübergerettetes inneres Kind
    Mit leiser Wehmut über die todernste selbstverzweckte Realität sich erwachsen wähnender Infantilisten
    Kinder leben in der Wirk lichkkeit
    Kindvergessene in einem Konstrukt das Sie dann Realität nennen

    Und Dir zum Troste
    Es ist eine gute Nachricht denn wenn ich meine Enkel sehe ui wie sind Sie doch wundersam lebendig
    Bei all dam „Untergang des Abendlandes“ dem Verfall illusionärer Allmachtfantasien und Rüstungsexportorgien
    Seis das Sie „Indigokinder Sternekinder Chistallkinder oder Hochsensible“ benannt werden
    Begleiten Sie uns Alte hinüber in ein Neues

    „Werdet wie die Kinder..“ empfahl Einer dessen innerstes Gemüt so kindlich rein blieb
    das Ihn die Systemerhalter auf die Todesliste heute Terrorist setzten

    lächelnd dankt
    Hans im Glück Dir Joachim von Herzen

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