Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

49 | First-World-Folter

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„Böh, ich fühl mich fett und ungelenk“, jammere ich.
„Bewegst du dich denn auch genügend?“, fragt meine Freundin Nicole mit gespielt mütterlichem Ton. „Definiere genügend? Ich stemme morgens mein Körpergewicht unter den Schreibtisch und abends wieder vom Drehstuhl hoch. Bei meinem Körpergewicht gilt das doch fast schon als Hochleistungssport!“

Ja, mit gesunder Bewegung ist es weit her, seit ich ins Berufsleben eingetreten bin.
Einige meiner Kollegen schwören ja auf vorarbeitliche Ertüchtigung im Fitness-Studio. Mir hingegen ist vollkommen schleierhaft, was Menschen so toll daran finden, ganz alleine und doch gemeinsam mit starr geradeaus gerichteten Augen auf einem Folterinstrument in einer Studiokette Zeit zu vertrödeln. Wann wurde aus McDonalds eigentlich McFIT?
Mannschaftssport lasse ich mir noch eingehen. Damit meine ich nicht, bei Freunden auf dem Sofa auf und abzuhoppeln und mit ihnen gemeinsam „Tooor!“ zu brüllen. Aber Gruppensportarten wie Badminton, Wasserball oder Tischtennis bieten zumindest einen gewissen Spaßfaktor.
Leider finde ich selten jemanden, der mich begleitet.

Was habe ich nicht schon alles versucht, um Bewegung in mein Leben zu bringen…
Schwimmen soll bei schwerem Übergewicht ideal sein, da es die Gelenke nicht belastet.
Der einzige Grund, aus dem ich mich für das Schwimmen entschied war, dass man unter Wasser nicht schwitzen kann.
Leider überwogen die Nachteile: Man benötigt für Anfahrt, umziehen, duschen, Haare trocknen und Heimfahrt mehr Zeit, als man sich in der Schwimmhalle aufhält. Dazu kommen hohe Eintrittspreise und die sonderbar fragenden Gesichter von Kollegen, weil man ständig nach Chlor riecht.
Also gab ich das Schwimmen wieder auf.

Auch mit harmlosen Spaziergängen klappte es nicht.
Einfach sinnlos herumzulaufen führte in meinem Fall dazu, dass ich nach 30 Minuten Fußweg zielstrebig die nächste Eisdiele anpeilte. Auf diese Art nahm ich trotz Bewegung noch zu!

Mit Joggen braucht mir auch keiner kommen. Diese übermotivierten Leute in viel zu engen Spandex, die immer genau dann über den Bürgersteig traben, wenn normale Menschen zur Arbeit gehen müssen, sind mir äußerst suspekt.
Aber gegen diese Art von Bewegung habe ich eine sehr sinnvolle Ausrede: In meiner hohen Gewichtsklasse ist Joggen aufgrund der 3G-Belastung sehr schädlich für die Gelenke. Man könnte auch sagen: Joggen kann nur, wer bereits dünn ist. Und wieso sollte man das dann noch wollen?

Ich versuchte es mit Fahrradfahren.
In der Großstadt hat Radfahren jedoch immer eine unfreiwillig komische Note: Nach dem Lesen der aktuellen Verkehrstotenstatistik (beruhigenderweise alles Radfahrer), ergriff ich Präventivmaßnahmen und zog mir erst einmal einen müllmann-orangenen Helm an, auf dem ein neon-gelbes Fähnchen wedelte. Dann zwängte ich mich in eine Polyster-Signal-Weste mit Reflektor-Band und befestigte vorn und hinten an meinem Drahtesel blinkende Warnlampen. Aus einigen Schritten Entfernung begutachtete ich mein Werk und befand, man könne nie vorsichtig genug sein. Zur Sicherheit wickelte ich mich noch in die Lichterkette vom letzten Weihnachtsfest.
Besser ausgeleuchtet als ein Flughafen bei Nacht, stieg ich auf mein Rad und versuchte, zwischen all den Fußgängern, die den Unterschied zwischen Rad- und Gehweg konsequent ignorieren, noch ein Plätzchen für mich zu finden. Wild klingelnd zuckelte ich in ausweichenden Schlangenlinien die Straße entlang, an der mich alle 15 Meter eine Ampel stoppte.
Mit sportlicher Betätigung hatte das wenig gemein. Das war höchstens Super-Mario-Kart im echten Leben und unter erschwerten Bedingungen. Und wenn du „ein Leben verlierst“, kannst du das Spiel nicht nochmal neustarten!
Für derartige Extremsportarten bin ich einfach nicht risikofreudig genug.

Die Grundidee des Radfahrens gefiel mir an sich aber ganz gut.
Wie also wäre es mit einem Heimtrainer? In meinem Wohnzimmer ist die Anzahl der Verkehrsteilnehmer sehr überschaubar. Dazu kommt, dass man in heimischen Gefilden nicht dem Wetter ausgesetzt ist, es regnet dort erfreulicherweise eher selten (der Vermieter hat das undichte Dach mittlerweile reparieren lassen…).
Also stöberte ich in den Kleinanzeigen und würde tatsächlich fündig: „Heimtrainer aus zweiter Hand günstig abzugeben“.
Als wir im 5. Stock bei der Dame ankamen, fragte ich sie, warum sie den Heimtrainer denn verkaufen wollte. Sie lächelte, errötete leicht und antwortete: „Ich hielt den Kauf des Gerätes damals für eine gute Idee. Mittlerweile steht er jedoch nur noch rum…“ In Gedanken rief ich hochmotiviert: ‚Das wird mir nicht passieren!‘
Die erste sportliche Tätigkeit bestand dann aber zunächst einmal darin, den Heimtrainer in meine Wohnung zu transportieren. Die Dame wohnte zwar in einem Haus mit Aufzug, allerdings handelte es sich um einen winzigen Personen-Aufzug, der wohl eher den Namen „Person-Aufzug“ verdient hätte. Mehr als eine Person passte nämlich nicht hinein, geschweige denn ein ganzer Heimtrainer. Sie schaute irritiert und murmelte: „Wie haben wir das Ding denn damals hier hochbekommen?“ Ihr Mann schaltete sich ein: „Aber Schatz, da war er doch noch gar nicht montiert gewesen.“
Zehn Minuten später prusteten zwei Menschen mit einem Heimtrainer im Arm fünf Stockwerke die Treppen hinunter und wuchteten das Gerät unter Schmerzensschreien in den Leihwagen.
Daheim angekommen galt es weitere vier Stockwerke zu überwinden, dieses mal leider nach oben.
Ich sage euch ganz ehrlich: So viele Kalorien wie an jenem Tag habe ich mit dem Heimtrainer nie wieder verloren.
In der Tat war nämlich schon die tägliche Vorbereitung ein Motivationskiller: Ich musste den Heimtrainer erstmal in Position schieben (von der Wand weg zur Mitte des Raumes hin), dann den Stecker (!) einstecken und im Trainingsprogramm jedes Mal wieder neu den elektromagnetischen Widerstand einstellen. Bereits bei Stufe zwei litt ich an schweren Schweißausbrüchen und extremen Knieschmerzen. Letztere waren dann auch der Grund, wieso ich das Training wieder einstellte.
Ich hätte den Heimtrainer danach seinem endlosen Kreislauf übergeben können, indem ich eine Kleinanzeige stelle und auf die Frage nach dem Verkaufsgrund leicht errötend antworte: „Ich hielt den Kauf des Gerätes damals für eine gute Idee…“
Noch dazu, wo ich in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebe und der Heimtrainer etwa ein Fünftel des Rauminhaltes einnahm, also eine ziemliche Platzverschwendung darstellte.
Stattdessen blieb ich stur bei meiner Überzeugung, dass die Knieschmerzen irgendwann schon wieder vergehen und die Motivation sicherlich zurückkommen würde.
Seit fünf Jahren nun hänge ich nasse Wäsche zum Trocknen über den Heimtrainer. Wenigstens hat er damit noch eine sinnvolle Verwendung gefunden…

Nicole schaut mich nachdenklich an: „Ich hab gehört, beim Sex verbrennt man bis zu 150 Kalorien!“ – „Ja, aber nur, wenn man mindestens eine Stunde durchhält…“

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

50 Kommentare zu “49 | First-World-Folter

  1. ich weiß gar nicht, worüber ich zuerst lachen soll. du schreibst köstlich!! vor allem die dekoration deines fahrrades hat mich inspiriert: gleich am montag werde ich wieder fahrrad fahren 😉
    liebe grüße, a

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  2. Fehler sollte frau/man nicht zweimal machen, sondern fünf- oder sechsmal, um sicher zu sein …

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  3. Ich war auch schon ein paar Mal soooo kurz davor … nun warte ich erstmal gespannt ab, wie dein Training weitergeht 😂

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  4. Mit dem Spazieren gehen ists chon keine schlechte Idee. Nimm einfach einen Fotoapparat mit und tobe dich aus. Das kostet keinen Eintritt und du vergisst die Lauferei völlig 😉

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  5. Wie jetzt…..
    Stibitzt Du für deine Geschichten nun schon jene Erlebnisse und Gefühle anderer?! *breit grins*
    Mein Heimtrainer steht ja auch hier bei mir und bettelt jeden Tag, dass ich ihn nutze.
    Ich tu das auch – 1x die Woche ungefähr…..
    Aber mir schläft tatsächlich der Hintern ein; oder noch ganz was anderes….
    Das mindert den Spaß am Radfahren ganz erheblich….
    Dafür könnte hinterher manch einer gut lachen, wie ich da wackelig und breit durch meine Wohnung schluffe, in der Hoffnung wieder aufzuwachen….

    Aber eigentlich – eigentlich sind die Dinger doch wirklich die beste Lösung für all die anderen Argumente, die ich genauso empfinde wie Du….
    Warum kann man nicht einfach irgendwo am Bauch die Luft ablassen? Also die andere…. die, die um die Hüfte herum immer so nach vorne drängt…..

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  6. der letzte Satz ist der schönste 😀 😀 😀 und ich dachte immer es sind 400kcl

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  7. … mein großes Kopfkino war das Fahrradoutdooroutfit… 😂❣

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  8. Heimtrainer mit Lieblingsshow auf der Mattscheibe funktioniert….joggen dauert ne Zeit, dann kickt es ein und man fühlt sich sowas von gut hinterher, dabei absolute Lieblingsmusik hören!!!

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  9. Ich habe mich in die Expedition Fahrrad verliebt, den Rest, der war mir wie ich gestehen muss nicht ganz unbekannt. Bis auf den Heimtrainer, soweit habe ich es nie gebracht.
    Liebe Grüße Wortgestoeber

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  10. Herrlich, wieviele Kalorien man wohl verbraucht beim lachen?
    Schwimmen?….Im Wasser ist man so schön leicht …..aber beim anschliessende heraushieven viel zu schwer….Spazieren?Wenn da unterwegs so ein Paar Bänke mehr wären…Das joggen wird negiert….aber Fahrradfahren!!!….wenn es hier nicht soviele Berge gäbe, immer nur rauf und runter ,mal ganz abgesehen von der Tatsache das ich nicht mehr LINKS abbiegen kann, rechts schon aber dann wurde ich ja ewig im Kreis fahren…Heimtrainer,HA, den hatte ich nach einenTretkoller per Lift nach unten im Flur befördert…jetzt wandert er von eine Etage in die andere und erfüllt befriedigt sein Dasein ohne mich.

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  11. Theoretisch würde ich sagen, ersetze Eisdiele mit Pokemon Go (nein, liebe Leser, ich spiele es nicht), aber bei der Wärme… nachher kollabierst Du mir noch. McFit würde ich meiden, da sammelt man eher lebende Mikroben-Proben, was zwar sehr naturfreundlich ist, der Gesundheit aber weniger zuträglich…

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