Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

52 | Ghetto-Blaster

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Das Adjektiv „neu“ impliziert in der Regel etwas Gutes.
Wenn es um Großstädte geht, sind Viertel und Bezirke, die im Namen den Wortteil „Neu-“ tragen, jedoch manchmal negativ behaftet. Siehe Neukölln (Berlin) oder Neuperlach (München).

Als ich 16 war, suchte ich nach einer Wohnung im Großraum einer Stadt. In meiner Vorstellung sollte es eine Vier-Zimmer-Penthouse-Wohnung mit zwei Bädern, einer großen, offenen Küche, bodentiefen Fenster und einem umlaufenden Balkon werden. Mein Budget riet mir eher zu einer Einzimmer-Wohnung mit Nasszelle.
Ich durchsuchte die Zeitungsanzeigen und wurde bald fündig. Ob die angepriesene Erdgeschoss-Wohnung mir überhaupt gefiel, stand nicht zur Debatte: Die Miete war bezahlbar und so wurde sie mein neues Zuhause.
Wo sie lag? Nennen wir es: „Neuviertel“.

In Neuviertel ging es hoch her. Eine zu große Anzahl von Menschen drängte sich auf viel zu geringer Fläche. Das allein ist in der Regel bereits ein Garant für Auseinandersetzungen. Wenn dieser Umstand einmal nicht zu Problemen führte, dann aber die Tatsache, dass auf der einen Seite der Bahngleise Menschen mit ausländischen Wurzeln lebten und auf der anderen die braune Brut herrschte.
So gab es in der Gegend einen sehr makaberen Witz: „Was ist, wenn in Neuviertel die Türken die Russen verkloppen? Dann steht es 1:0 für die Türken. Was passiert, wenn danach die Russen die Türken verhauen? Dann steht es 2:0 für die Nazis!“
Dieses lauschige Plätzchen war also meine neue Heimat geworden.

Ich lernte schnell, dass wenn man sich an ein paar einfache Grundsätze hielt, dem eigenen Überleben kaum etwas im Weg stand. Dazu gehörten:
1. Das Verlassen der Wohnung nach Anbruch der Dunkelheit sollte tunlichst vermieden werden. Es sei denn, man will ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet werden. Oder d) alles vorher genannte zusammen.
2. Es ist zu keiner Jahreszeit angemessen, in einer Erdgeschoss-Wohnung nachts die Fenster zum Lüften offen zu lassen. Außer man ist extrem risikofreudig, siehe Punkt 1.
3. Sollten am hellichten Tag Schüsse zu hören und Einsatzwagen und Polizei-Hubschrauber unterwegs sein, treten die Regeln der Absätze 1 und 2 in Kraft.

Natürlich war ich trotzdem nachts unterwegs. Ich war jung, besuchte Freunde, ging auf Partys, es wurde spät. Dennoch verabschiedete ich mich immer spätestens um 23:00 Uhr. Nicht etwa, weil Klein-Roey in die Heia musste. Sondern weil um Mitternacht die Rushhour anbrach.
In einer Gegend wie Neuviertel waren abends viele Menschen unterwegs. Sie tranken, sie rauchten, sie pöbelten, sie randalierten. Soweit, so normal.
Vor Mitternacht waren die Leute angetrunken, teilweise auch berauscht. Stark genug, um sich ein wenig aufzuspielen, aber eben nicht genug, um ihren Aggressionen freien Lauf zu lassen.
Nach 2:00 Uhr waren die Leute so betrunken und zugedröhnt, dass sie nicht mehr in der Lage waren, jemandem zu schaden. Die Menschen erzählten sich von sonderbaren Szenen: Betrunkene Angreifer gingen nach 2:00 Uhr auf Passanten zu, wedelten unkoordiniert mit Schusswaffen herum und lallten unverständliches Zeug wie: „Giiimma dei Portmonäää“ – „Entschuldigung, wie bitte?“ – „Deeei Portonääää“ – „Ich verstehe nicht“ – „Aarfff, ma enlich“. Der Besitzer behielt sein Portemonnaie und ging einfach weg – als Bewohner von Neuviertel verfügt man eben über stoische Gelassenheit…
Nur in der Zeit von Mitternacht bis 2:00 Uhr waren die Leute betrunken genug, um Streit anzuzetteln und noch nicht zu betrunken, um beim Angriffsversuch einfach rückwärts umzufallen. In Neuviertel nannte man diesen Zeitraum nicht ‚Geisterstunde‘, sondern ‚Rushhour‘.

Einmal war die S-Bahn abends zu spät und ich geriet in die Rushhour.
Ich war jedoch (wie immer) vorbereitet, trug CS-Gas, Messer und Wurfsterne bei mir.
Ich war offenbar alt genug, um einen Wurfstern zu besitzen, aber nicht alt genug, um zu wissen, dass diese in Deutschland generell verboten sind…
Ich war auf dem Heimweg vom Bahnhof und ging die schwach beleuchtete Straße entlang, als ich plötzlich hinter mir ein Auto hörte. Ich drückte mich in den Schatten der Büsche und versuchte, mich in der Dunkelheit aufzulösen. Das Auto überholte mich und ich atmete fast erleichtert auf, als es plötzlich langsamer wurde und doch noch vor mir anhielt. Instinktiv griff ich in meine Manteltasche und umfasste das CS-Gas und den Griff des Messers.
Die Fahrertür des Autos öffnete sich und ein Mann stieg aus. „Hey du!“ zischte er leise. Es war weit und breit niemand zu sehen; ich umschloss den Messergriff fester.
„Sag mal, weißt du, wo hier der Bahnhof ist?“
War das jetzt die neuste Masche der Kriminellen? Potentiell hilfsbereite Menschen unter Vorwand einer Wegbeschreibung auszurauben?
Ich konnte ihm den Weg natürlich weisen, hätte dann aber wenigstens das CS-Gas loslassen müssen, was ich definitiv nicht vorhatte. Ich blickte den Mann hochkonzentriert an, deutete mit dem Kopf nach links und murmelte: „Die Straße runter“.
Der Mann blieb zuerst stehen. Ich zog das Messer langsam aus dem Mantel. Ohne dieses bemerkt zu haben, drehte sich der Mann plötzlich um, rief „Danke!“ und fuhr davon.
Wie im Schock und mit den Händen immer noch im Mantel, drehte ich mich um, blickte ihm irritiert nach und brüllte dann: „Alta, du kannst in so einer Gegend doch nicht mitten in der Nacht kleine Mädchen ansprechen! Bist du vielleicht lebensmüde??“ Kopfschüttelnd ging ich nach Hause. Wie leichtsinnig und vertrauensselig die Menschen doch waren!

Eines Morgens lernte ich den GRÖSSTEN Nazi von Neuviertel kennen.
Ungewollt, versteht sich. Ich mag generell keine Nazis. Davon abgesehen sind mir Menschen, deren Kopf besser rasiert ist als meine Muschi, einfach suspekt.
Ich war gerade in die S-Bahn eingestiegen, als ein Mann meinen Weg zum nächstgelegenen Sitzplatz kreuzte. Ich erkannte sein Gesicht, denn ich hatte es oft in Zeitungen gesehen. Meist neben nicht sehr schmeichelhaften Artikeln. Ja, er war es: Der GRÖSSTE Nazi von Neuviertel. Gerüchten zufolge hatte er ganze Hundertschaften von stark gebräunten Männern um sich gescharrt. Wem sein Leben lieb war, der legte sich nicht mit diesem Kerl an.
Dort stand er also und blätterte in einer „Deutschen Stimme“. Wem der Name dieser Zeitung nicht verdächtig vorkommt, der sollte spätestens bei der Farbgebung aufmerken: schwarz-rot-weiß gehalten, ließ sie keinen Zweifel darüber, mit welchen Themen sie sich befasste.
Ich starrte ihn an. Er drehte sich zu mir um – und schaute geradewegs auf meine Brüste! Etwas anderes konnte er auch gar nicht erblicken, denn der GRÖSSTE Nazi von Neuviertel war nur 1,50m groß!
War er deswegen ein Nazi geworden? Weil er eine schwere Kindheit hinter sich hatte, voller Hänseleien aufgrund seines Minderwuchses? Sollten ‚Die Ärzte‘ etwa recht haben? Armer Junge…
Ich versuchte zwanghaft, woanders hinzusehen und mich unauffällig zu geben. Aber mein Gehirn brüllte die ganze Zeit: „HAHAHAHAHAHAHAHAHAHA!“

Nach ein paar Jahren hatte ich die Schnauze von Neuviertel gestrichen voll.
Ich fand eine Anzeige, in der eine 40qm-Wohnung äußerst günstig angeboten wurde. Das Viertel, in dem sie lag, war nicht gut, aber immer noch um Längen besser als Neuviertel. Dass die Wohnung ausgerechnet Baujahr 1933 war, schreckte mich nicht ab und so vereinbarte ich einen Besichtigungstermin.
Der Besitzer zeigte mir eine helle Ein-Raum-Wohnung. Ich suchte nach dem Haken, aber die Wohnung war wirklich schön. Bis auf… „Wo ist denn eigentlich das Badezimmer?“ Der Besitzer führte mich zu meiner Überraschung aus der Wohnung raus und den Flur hinunter. Er öffnete eine verschlagähnliche Tür und zog an einem Seil, welches zu einer Glühbirne führte. Vor uns, direkt an der Türschwelle, war eine winzige Duschwanne. Hinter der Duschwanne stand eine Toilettenschlüssel. Ich versuchte, mir meine Irritation nicht anmerken zu lassen.
Der Vermieter berichtete derweil freudig von den Vorzügen dieses Badezimmers: Da es (weit!) außerhalb der Wohnung lag, müsste man keine schlechten Gerüche ertragen. Wenn man duschen wollte, konnte man die schimmelige Holztür zuziehen und sich in Ruhe der Körperhygiene hingeben. Wollte man lediglich die Toilette aufsuchen, konnte man ein verrottetes Brett über die Duschwanne legen und den Thron besteigen. Als besonderes Feature führte er an, dass man die Toilette quasi nicht putzen müsste, da es ja ausreiche, beim Duschen den Klodeckel offenzulassen…
Mit großen Augen bedankte ich mich höflich für seine Zeit und murmelte beim Rausgehen hörbar: „Dann doch lieber Ghetto!“

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

24 Kommentare zu “52 | Ghetto-Blaster

  1. Bis eben hätte ich mir nicht vorstellen können Nazi, Größte, Kopf und Muschi in einem Satz unterzubringen. Danke Roe, du erweiterst wirklich meinen Horizont, auch humoristisch 😀

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  2. looooooooooooooool, das beste kommt natürlich zum schluß. hahahahaha. siehst du roe… die vorteile auf dem land zu leben bzw. zu wohnen, zumindest was die wohnung anbelangt….. hast du selbst aufgezählt 😉 hach wie schön das ich ein landei bin 😛

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  3. Deine Stories sind immer wieder ein Highlight! You made my day 😉

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  4. Deine „Erzählkunst“ ist bemerkenswert. Freue mich immer wieder über deine „Geschichten“ und deine Wortwahl. Ich musste manchmal lachen, obwohl das Thema ja nicht wirklich dazu einlädt. Du nimmst es mit Humor! Das gefällt mir gut.
    Allerdings könnte ich mir nicht vorstellen, jemals in einer Gegend zu wohnen, wo es gefährlich ist. Ich finde das äußerst mutig. Seit 7 Jahren wohne ich in der Großstadt, allerdings in einem beschaulichen Viertel. Es gibt hier aber auch Viertel bzw. Stadtteile, die ich alleine immer meiden würde. Ich bin ja ein „Landkind“ und bin nur widerwillig in die Großstadt gezogen, aber was tut man nicht alles aus Liebe 🙂 Allerdings hat das Stadtleben auch viele, viele Vorteile! Herzliche Grüße, Sigrid

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    • Tja, wie sagt man so schön: Manchmal muss man zwischen Cholera und Pest entscheiden.
      Wenn ich könnte, würde ich auch auf dem Land wohnen. Nächster Nachbar mindestens 2km entfernt 😉

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      • Manchmal muss man halt Zugeständnisse machen – aus welchem Grund auch immer. Allerdings käme für dich „auf dem Land“ nur ein Aussiedlerhof in Betracht 😀 – der hätte dann die notwendige Distanz. Obwohl oft Gärte zwischen den Häusern liegen, wissen die Nachbarn auf dem Land immer, was bei den anderen los ist. Der Nachteil des Landlebens, aber auch von Vorteil, denn „sich kümmern“ kann auch positiv sein. Ich kenne beides und würde doch eher wieder das Landleben vorziehen, denn die Anonymität der Stadt finde ich nicht schön. Schönes Wochenende wünsche ich Dir!

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        • Oh mein Gott, statt „Aussiedlerhof“ hab ich „Friedhof“ gelesen!!! Da wäre es allerdings auch ruhig… XD
          Irgendwann ziehe ich bestimmt wieder auf’s Land 🙂

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          • Sorry, wenn ich dir einen Schrecken eingejagt habe. Tatsächlich ist der Friedhof meistens mitten im Dorf auf dem Land und es wird darum herum gebaut. Am Friedhof wohnen ist gar nicht mal so übel. Ruhig, grün, große Bäume. Da wo ich herkomme heißt ein Neubaugebiet: Ob dem Friedhof! 😂 😂 😂 😂

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            • Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen und da war die Kirche mitten im Dorf und hinter der Kirche der Friedhof. Ich hatte das als Kind auch nie beunruhigend empfunden. An Geister oder dergleichen glaubte ich nicht.
              Sind halt sehr ruhige Nachbarn 😀

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  5. Dieses „Loch“ erinnert mich an meine erste Wohnung, in der die Toilette und die Dusche (getrennt) ebenfalls außerhalb der Wohnung lagen und mit anderen Mietern außerdem geteilt werden mussten. Ein wirklich romantisches Örtchen, an dem ich es sogar 11 Monate ausgehalten habe. Aber mein Highlight des Artikels ist „Davon abgesehen sind mir Menschen, deren Kopf besser rasiert ist als meine Muschi, einfach suspekt.“ … Yay!

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  6. „nicht ‚Geisterstunde‘, sondern ‚Rushhour‘“ – hat was! Ein schönes Sittengemälde des Großstadtlebens. Fühle dich gelobt.

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  7. In meiner Zeitin Berlin habe ich in Wedding gewohnt. Ich glaube heute darf man sich da nach 22 Uhr auch nicht mehr auf die Straße trauen…..aber Stadtviertel verändern sich 😦

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  8. aarrfff! 😁

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  9. Super- bin unfassbarer Fan von Dir – ab heute….:-) 😉

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