Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

56 | Der olivgrüne Kinderspielplatz

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Ich war acht Jahre alt und hatte Sommerferien.
Was für die meisten Kinder die schönste Zeit des Jahres ist, wird für berufstätige Eltern zum Spießrutenlauf: Wohin mit den unmündigen Nachkommen?
Meine Oma Irmchen war die Treppe hinabgestürzt und kam aufgrund des hieraus resultierenden Hüftbruchs nicht mehr als Babysitter infrage. Kitas, Horte oder Ferienfreizeiten gab es damals noch nicht. Was also tun?
Meine Eltern brüteten am Küchentisch über Terminkalendern und Urlaubsplanern. Doch es war nichts zu machen, alle freien Tage waren bereits verbucht. So kam es, wie es kommen musste: „Nehmen wir sie halt mit zur Arbeit.“
Ich blickte irritiert über die Tischkante. War Kinderarbeit in Deutschland nicht verboten?
„Das ist unmöglich, das erlaubt mein Chef niemals. Du weißt doch, was damals los war!“ – „Als sie bei euch ins Büro gemacht hat, war sie doch erst drei Monate alt!“ – „Ich glaube, das reicht meinem Chef aber auch noch für die nächsten zehn Jahre…“ Mein Vater grunzte. Als Arbeitnehmer in leitender Position konnte er selbst bestimmen. Also war es abgemacht: Klein-Roey sollte den Ernst des Lebens kennenlernen!

Frühmorgens um 06:00 Uhr hatte mein Vater den Kindersitz unter wilden Flüchen in seinen sportiven Flitzer verfrachtet und unter Zuhilfenahme schamanischer Wünschelruten auch bereits nach nur 40 Minuten korrekt installiert. Nun machten wir uns auf den Weg zur Arbeit.
Nach einiger Zeit erreichten wir ein abgeschirmtes Gelände mit hohen Zäunen und Stacheldraht. Davor ein Häusschen, das aussah wie eine große Telefonzelle. Mein Vater kurbelte das Fenster herunter, reichte dem wichtigtuenden Männchen einen Ausweis und salutierte.
Ach, hatte ich vergessen zu erwähnen, dass mein Vater Berufssoldat war? Die genaue Bezeichnung damals lautete: „Leiter Triebwerksinstandsetzung“.
Nach einigen Minuten Fahrt über ein Gelände, welches für meinen Geschmack in nicht sonderlich dekorativen Olivgrün gehalten war, erreichten wir einen langen Flachbau.
Ich tappste schüchtern hinter meinem Vater in die Halle, wo bereits einige Uniformierte herumstanden und mich musterten. Sowohl Dienstgrad als auch Stellung meines Vaters waren hoch genug, dass niemand fragte, wer das kleine blonde Mädchen mit den aufgeweckten blauen Augen war.

Ich selbst kam nicht dazu, die neue Umgebung lange auszukundschaften: „Du, Papa…“, zupfte ich an seiner Hose. Mein Vater unterhielt sich mit einem der Soldaten und ignorierte mich. „Papa?“ Das Gespräch war scheinbar wichtig. „PAPA!!!“ Mein Vater zuckte zusammen: „WAS?!“ – „PIPI, JETZT!“
Wie ich schnell herausfinden sollte, war die Bundeswehr auf meine Ankunft nicht vorbereitet gewesen. Die Geschehnisse spielten nämlich zu einer Zeit, in der es noch keine weiblichen Soldaten bei der Bundeswehr gab. Natürlich waren auf dem Stützpunkt Frauen unterwegs, die jedoch alle in Zivilstellungen, z.B. als Krankenschwestern oder Sekretärinnen, und ausschließlich in bestimmten Gebäuden arbeiteten. Die Triebwerkshalle, in der wir uns gerade befanden, gehörte allerdings nicht dazu. So hatte noch nie zuvor ein weibliches Wesen diese betreten. Ich war quasi so etwas wie ein Pionier meiner Zeit, eine Vorreiterin des zarten Geschlechts, eine Jeanne d’Arc der… „Es gibt hier keine Damentoiletten!“ Verdutzt sah ich meinen Vater an. Und wo sollte ich bitte die nächsten neun Stunden… Mein Vater trabte mit mir an der Hand zum Herrenklo, hieß mich stehenzubleiben und spähte durch die Tür. „Die Luft ist rein, äh, ich meine, keiner da. Auf geht’s!“
So war das ab da immer. Ich war vermutlich der einzige Mensch, für den sinnbildlich der rote Teppich zum Klo ausgerollt wurde. Ich fühlte mich bei jedem Toilettengang wie eine Königin!

Als nächstes fand ich heraus, dass die Bundeswehr ungeahnte Unterhaltungsmöglichkeiten bereithielt: Mein Vater kommandierte vor Feierabend alle Soldaten dazu ab, mit riesigen Besen die Halle einmal der Länge nach von Hand sauberzufegen, bis auch das letzte mikroskopisch kleine Stäubchen die Flucht ergriff. Ein so gereinigter Hallenboden eignete sich ideal zum Rollschuhlaufen!
Ich hatte großen Spaß, während ich mich in Pirouetten drehte und Kunststückchen vollführte. Stets begleitet vom heiseren Geschrei männlicher Stimmen, die mich verzweifelt um Rücksichtnahme baten.
Wie vielen Achtjährigen außer mir wohl Standpauken gehalten wurden, die losgingen mit: „Weißt du eigentlich, was so ein Düsentriebwerk kostet?!“

Nach einer Weile wurde es meinem Vater dann doch zu bunt. Er brüllte im ihm bekannten Befehlston durch die Halle, dass ich sofort anzutanzen, strammzustehen und Gehorsam zu leisten hätte, welcher im Detail so aussähe, dass ich nicht im Rückwärtsgang seine Untergebenen und/oder die gerade zu bearbeitenden Triebwerke über den Haufen fahre! Ich verschränkte wütend die Arme und brüllte in gleicher Lautstärke zurück, dass es nunmal regne und ich daher nicht draußen auf der stillgelegten Landebahn Rollschuhlaufen könnte. Und überhaupt, dass es hier an seinem Arbeitsplatz stinkend-langweilig und voll blöde war! „DU GEHST SOFORT IN MEIN BÜRO!“ – „ICH WILL ABER NICHT, BÄÄÄH!“
Die Männer blickten erstaunt auf. Diesem großgewachsenen, stattlichen Hauptfeldwebel hatte noch nie zuvor jemand den Befehl verweigert. Nun war sein größter Widersacher eine trotzige Achtjährige!

Die Soldaten hatten Mitleid mit mir. Das Gefühl, gegen den eigenen Willen den ganzen Tag dort eingesperrt zu sein, kannten sie scheinbar nur zu gut…
Einer der Männer organisierte Kakaopulver und zeigte mir, wie man mit einem Stück Panzertape über dem Anschalter den Wasser- zum Eierkocher umfunktionieren konnte. So schmatzte ich glücklich ein verspätetes Frühstücks-Ei und schlürfte warmen Kakao aus einer „Chef“-Tasse.
Meinen Vater ignorierte ich eingeschnappt. Erst musste er sich entschuldigen! Mir doch egal, welchen Rang er hatte!

Am Nachmittag hatten wir uns wieder versöhnt.
Ich thronte in seinem Chefsessel und versuchte verzweifelt, nur mit einem blauen Kugelschreiber und einem olivgrünen Filzstift ausgestattet, ein Bild zu malen. Wie mir die Jungs erklärt hatten, machten sich die Filzstifte besonders gut, um Macken an Dienstfahrzeugen auszubessern. Genauso rochen sie leider auch. Man wurde fast ohnmächtig von dem beißend-chemischen Gestank, den sie absonderten.
Ich blickte gerade angewidert auf den Filzer, als die Tür aufsprang und ein paar wichtig aussehende Männer hereinmarschierten. Sie standen stramm, salutierten und einer konstatierte: „HAUPTFELDWEBEL RAINRUN…“ dann erblickte er irritiert das kleine Mädchen mit dem erhobenen Filzer, bewahrte Haltung und korrigierte: „Wir suchen Hauptfeldwebel Rainrunner!“ – „Der ist grad Kaka.“ – „Öhm?“

Abends berichtete ich aufgeregt meiner Mutter von den Erlebnissen des Tages: „Im Klo haben die überall mit Stiften an die Trennwände geschrieben. Das darf man doch nicht! Da stand zum Beispiel: ‚Ich bin der Geist, der jedem der hier scheißt, von unten in die Eier beißt.‘ Und untendrunter hatte einer geschrieben: ‚Mich hat er noch nicht gebissen, ich hab ihm auf den Kopf geschiss…'“ – „Sag mal Schatz, was treibt ihr eigentlich den ganzen Tag mit unseren Steuergeldern?“, wandte meine Mutter sich empört an meinen Vater. Er würgte röchelnd eine Frikadelle herunter: „Du weißt doch, wie die jungen Burschen sind, nichts als Flausen im Kopf! Und überhaupt“, redete er sich heraus, „wieso kann das Kind schon lesen?“ – „Sie ist acht!“ Meine Mutter wandte sich wieder mir zu: „Und sonst so?“ – „Du, Mama, der eine Kerl hat in seinem Spind ein Foto von einer nackten Frau hängen! Man konnte voll die Brüste sehen!“ Meine Mutter grummelte.

Am nächsten Morgen erklärte mir mein Vater daher auf dem Weg zur Arbeit sehr ernst, dass alles, was bei der Bundeswehr passierte, unbedingt auch bei der Bundeswehr zu bleiben hatte. Es ging schließlich um die nationale Sicherheit!
Jetzt war ich eine Eingeweihte und verstand: Barbusige Pin-up-Fotos waren Staatsgeheimnisse, die es mit der Waffe – und notfalls dem eigenen Leben – zu verteidigen galt!

Es regnete immer noch und da die komplette Halle mit Triebwerken und wild schraubenden Mechanikern belegt war, hockte ich gelangweilt auf dem Stuhl meines Vaters und drehte mich solange im Kreis, bis er genervt meinte: „Gugg mal, Junior. Wir haben hier perforiertes Endlos-Papier. Es ist von ab-so-lu-ter Wichtigkeit, dass das Papier aus der Perforation herausgetrennt wird. Gugg, so!“ Er machte es vor. Ich verfolgte seine Ausführungen aufmerksam. Nun hatte ich eine herausfordernde Aufgabe. Und konnte etwas für die nationale Sicherheit tun!
Mein Vater seufzte erleichtert, während ich meiner Tätigkeit gewissenhaft nachging und mit konzentriert herausgestreckter Zunge einige Kilometer Papier abtrennte.

Doch der Tag war lang.
Irgendwann hörte ich meinen Vater draußen herumbrüllen. Offenbar hatte mal wieder einer nicht getan, was er sollte. Oder besser gesagt: was mein Vater wollte. Der Soldat kassierte einen saftigen Anschiss und ich lernte wieder viele neue Worte, die meine Mutter gar nicht erfreuen würden…
Die Tür flog auf, mein Vater trat mit gerötetem Gesicht ein. Hinter ihm ein sichtlich zusammengestauchtes Männlein. „Roe, das ist Harald. Er wird die nächsten drei Stunden auf dich aufpassen!“ Babysitting als Disziplinarstrafe? Ich schaute Harald euphorisch an.

Draußen vor der Halle stand ein Flughafen-Fahrzeug (man kennt sie z.B. von den Gepäckwagen, nur war dieser – wie alles eben – olivgrün). Harald stieg ein und kommentierte: „Dann mal los!“ – „Ich darf fahren?“ – „Ja, wir müssen mal eben ums Eck, weil ich da noch etwas zu erledigen habe.“ – „ICH darf FAHREN?“ – „Jaha!“ Wow!
Das kleine Gefährt kannte nur Beschleunigen, Bremsen und Lenken. Das Bremspedal konnte ich aufgrund meiner kindlichen Statur jedoch nicht erreichen. Allerdings wird Abbremsen ja sowieso total überschätzt…
Ich sauste juchzend über stillgelegte Landebahnen und Stützpunktstraßen, während Harald zwischen hysterischem „OBACHT!“ und langgezogenem „VORSICHT!“ immer wieder verzweifelt versuchte, das Bremspedal zu erreichen. Endlich mal kindgerechte Bespaßung! Harald sah das mit Sicherheit ganz anders, denn er krabbelte nach unserer kleinen Tour leichenblaß zurück in die Halle.
Bei unserer Ankunft warf mein Vater ihm einen triumphierenden Blick zu und wandte sich gutgelaunt mir zu: „Naaa, wie war’s?“ – „Spitzenklasse!“

Nach einigen Wochen war mein Ferienausflug vorüber und das einzig olivgrüne in meinem Leben waren tatsächlich nur noch die Oliven, die mein Vater stets zum Frühstück verspeiste.
Ich denke, es war einfach an der Zeit gewesen, dass jemand diesen müden Haufen von Grünlingen aufgemischt hatte…

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

34 Kommentare zu “56 | Der olivgrüne Kinderspielplatz

  1. Danke für Lachtränen in der Mittagspause…!

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  2. Was für schöne und spaßige Erinnerungen

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  3. Jeanne d’Arc…..
    „Der ist grad Kaka.“ ……
    hach was ein herrlicher spass diesen text am freitagmittag zu lesen. herrlich. EINS-A
    hahahahahahahahahaha

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  4. Wieder mal sehr unterhaltsam! Solche Erlebnisse vergisst man niemals! Apropos – vor wenigen Tagen auf der Autobahn Richtung Südwesten ….. Auf der Damentoilette eine endlose Schlange …. Die Herrentoilette wie immer „ohne“! Davor stand der Toilettenmann und den sah ich mit großen Augen an. Er sagt nichts, sein Kopf aber deutet Richtung Herrentoilette und er sagt nur ein Wort: „Frei“! Ganz so war’s dann doch nicht. Vor den Pissoirs ein völlig verdutzter Jüngling als ich die geschlossene Toilette ansteuere! Nun hoffe ich inständig – nach Erledigung eines dringenden Bedürfnisses – dass draußen nicht alle vier Pissoirs „belegt“ sind und ich an allen diesen unvorbereiteten Männern vorbei muss. Glück gehabt, nur der „Jüngling“, den ich am Waschbecken wieder treffe, schaut immer noch recht dumm aus der Wäsche, aber ich tu so als wäre ich hier vollkommen „richtig“ und verlasse das männliche „Örtchen“ hoch erhobenen Hauptes, wobei mich am Drehkreuz, wo noch immer unglaublich viele Frauen warten, so mancher überraschte Blick verfolgt. Sei’s drum, jetzt ab ins Auto und weiter in den „Süden“.
    Ein schönes Wochenende wünsche ich dir und ich freu‘ mich auf weitere Geschichten. LG Sigrid

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  5. LOL – Herrlich! DANKE 🙂

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  6. einfach cool…….;-)„Der ist grad Kaka.“

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  7. … da hat man schon mal einen Hanga als Rollschuhfläche und der Papachef ist auf Vorbildkurs…

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  8. Die Kernfrage dürfte sein: Wieso bist Du nicht unumstößlich zur Berufssoldatin mutiert?

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    • Nun, die ehrliche Antwort ist folgende:
      Als ich ganz klein war, war mein Vater natürlich mein unumstößliches Vorbild und ein Held für mich. Im Alter von ca. fünf Jahren habe auch ich stolz verkündet „Wenn ich groß bin, werde ich Soldat!“ Mein Vater hat mich allerdings ausgelacht und gesagt, dass Frauen keine Soldaten werden [können]- was damals ja auch stimmte. Das kindliche Helden-Epos bekam hier empfindliche Kratzer.

      Als ich älter wurde, waren alle kindlichen Berufsträume passé und ich habe mich dem gewidmet, was mir Spaß gemacht hat 😉

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  9. au mann, roe, du bist sone knalltüte als kind gewesen. super!!
    herbstgrüße, a

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  10. Der ist grad… ich kann nicht mehr 😂

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