Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

59 | Sozialhaft – Teil 1/3

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„Nächsten Monat werden Sie alle zu einer teambildenden Maßnahme fahren.“
So begrüßt uns der Oberboss zum Meeting, nachdem er seine Aktenmappe betont gelangweilt auf den Tisch geworfen hat. Die eine Hälfte des Teams blickt erstaunt auf, in den Gesichtern der übrigen Anwesenden zeichnet sich blankes Entsetzen ab.
Der Oberboss fährt unbeirrt fort: „Die Geschäftsleitung hat beschlossen, dass im Zuge einer Weiterbildungsmaßnahme alle Teams für einige Tage gemeinsam am Seminar ‚Schlagt euch nicht tot‘ teilnehmen sollen. Sie werden dazu von Montag bis Mittwoch in einer Ferienwohnung untergebracht, in der Sie sich in Zwei-Bett-Zimmern aufhalten und an den Kursen teilnehmen werden.“ Die Augen der bekinderten Kollegen leuchten auf und man kann ihre Gedanken förmlich hören: ‚Juhu, bezahlter Urlaub ohne Gören!‘
Ich hingegen rufe empört aus: „Drei Tage? Auf engstem Raum mit meinen Kollegen?“ – „Freuen Sie sich darauf, Rainrunner?“ – „Freuen?? Die meisten meiner Kollegen ertrage ich kaum acht Stunden am Tag, geschweige denn drei Tage am Stück! Und dann soll ich auch noch mit einem das Bett teilen!?“ – „Rainrunner, Sie sollen sich nicht das Bett teilen, sondern das Zimmer. Das möchte ich hier ausdrücklich betonen!“ – „Boah, das ist trotzdem wie Knast!“, motze ich weiter. „Kriegen wir wenigstens eine Tüte Gras oder eine Packung Valium als Wegzehrung? Ansonsten überstehe ich das auf keinen…“ – „RAINRUNNER, SCHLUSS JETZT! Genau deswegen sollen Sie zu dieser Maßnahme! Zur Team-för-der-ung!“ Er schaut mit hitzigem Gesicht in die Runde und schnaubt. Niemand wagt mehr, zu widersprechen. Ich verschränke die Arme und schmolle wie ein Kleinkind.

Versteht mich nicht falsch, liebe Leserschaft. Meine Kollegen sind stets für mich da.
Das sind unheilbare Krankheiten auch und trotzdem will ich keine Zeit mit ihnen verbringen!

Zwei Wochen vor dem Seminar laufe ich nur noch in kurzer Kleidung und Flipflops herum. Lecke an Türklinken, küsse kränklich aussehende Kollegen auf den Mund und halte mich solange vor der örtlichen Kita auf, bis die Erzieher den Wachschutz alarmieren. Aber es hilft alles nichts, ich bin kerngesund und habe somit keine vernünftige Ausrede vorzuweisen, um dieser Reality-TV-Show fernzubleiben.
Knurrend packe ich am Sonntag-Abend meine Tasche und bereite mich mit Fliegenklatsche und Backofenschaum auf das Schlimmste vor.

Am Montag soll ich mich pünktlich um Null-Siebenhundert Nato-Zeit an der Straßenecke zur Aufsammlung einfinden.
Natürlich regnet es in Strömen und meine Kollegen verspäten sich.
Endlich erscheint der kleine rote Golf des Kollegen Meier. Er stoppt, öffnet die klappernde Fahrertür der Rostschüssel, steigt aus und begrüßt mich. Meine Haare kleben klatschnass vom Regen am Kopf, die rahmenlose Sehhilfe ist voller Wassertropfen, meine Mundwinkel hängen runter bis auf meine Brüste. So bemitleidenswert hat seit dem kalten Krieg niemand mehr ausgesehen.
Ich brummele daher nur genervt: „Wo soll ich sitzen?“ – „Du bist die Kleinste, deswegen musst du hinten in die Mitte.“ Ich drehe meinen Kopf zur Rückbank, von der mich die erwartungsvollen Gesichter der Kollegen Rüssel und Steinherr anblicken. Ich protestiere in Richtung Meier: „Das ist ein Golf, die Rückbank ist doch längst voll!“
Ohne darauf einzugehen, steigt Kollege Rüssel grinsend aus, damit ich mich in die Mitte quetschen kann. Kollege Meier verstaut derweil mein Gepäck im Kofferraum, was – wenn ich die Geräuschkulisse im prasselnden Regen richtig deute – nur möglich ist, indem er den Deckel des Kofferraums mehrfach auf meinen Kosmetikbeutel donnert. Im Zuge dieser Behandlung gerät das kleine, eh schon instabil wirkende Wägelchen, gefährlich ins Wanken. Ich klettere grummelnd auf die Rückbank und überlege, ob damals beim Elchtest auch Autos einfach im Stehen auf die Seite gekippt sind.
Ehe ich mich anschnallen kann, schwingt sich Kollege Rüssel schon wieder auf die Rückbank. Durch und durch genervt fauche ich vor mich hin: „Jetzt darf ich erstmal am Arsch vom Kollegen Rüssel nach dem Gurt suchen und bei Kollege Steinherr weiterfummeln, um den Gurt festzumachen. Tolle Aussichten…“ – „Hab dich nicht so, wir sind doch supersexy!“, wiehert Kollege Steinherr. „Ja, und seit 25 Jahren verheiratet. Hoch mit den Ärschen!“, kommandiere ich und lasse bewusst offen, ob ich nun die Herren oder ihre Hinterteile meine. Ich stecke den Gurt ins Schloss, ziehe daran, um festzustellen, ob er auch eng genug sitzt – und halte prompt das andere Ende in der Hand. Richtung Fahrersitz gewandt murmele ich irritiert: „Äh, Meier, der Gurt hier…“ – „Ist vor 17 Jahren abgerissen. Würde wohl aber eh nicht mehr viel aushalten…“

Wäre mein Leben ein Cartoon, hätte der Zeichner spätestens jetzt kleine dunkle Wölkchen über meinen Kopf zeichnen müssen: Ich bin platschnass, im Inneren meines Kosmetikbeutels befindet sich dank der freundlichen Behandlung durch Meier vermutlich ein Duschgel-Massaker, ich bin eingequetscht zwischen zwei Kollegen, deren äußeres Erscheinungsbild mit der Umschreibung ’nicht mehr ganz tau-frisch‘ noch sehr optimistisch formuliert wäre, sitze derweil in einem Todesgefährt ohne Sicherheitsgurt und das alles ist nur der Auftakt zu drei Tagen Weiterbildungsmarathon, in deren Anschluss ich mich aufgrund einer Sozialphobie vermutlich in therapeutische Hände begeben muss!
Meine Laune ist so dermaßen im Keller, dass ich für einen kurzen Moment überlege, ob mir dieser Job all das wirklich wert ist. Aber ich mache mir bewusst, dass selbst wenn ich ich hier und jetzt meine Kündigung aussprechen würde, ich diese Rückbank ohne Konservenöffner und Lastenzug nicht mehr verlassen könnte. Alles Quengeln und Zetern hilft also nichts, da muss ich jetzt durch.

Die Autofahrt dauert vier Stunden. Dann erreichen wir ein gefengshuites Gebäude in Zelt-Optik, das von asiatisch aussehenden, definitiv nicht winterfesten Pflanzen umwuchert wird. Total im Energiefluss des Zen, liegen um das gesamte Gebäude Parkplätze verteilt.
Mit großen Augen blicke ich aus dem haltenden Auto und frage mich, welche Sekte hier normalerweise ihre satanischen Messen abhält…

Als Steinherr seinen Hintern endlich röchelnd vom Rücksitz walzt und aussteigt, kullere ich aufgrund der nun fehlenden Abstützung aus dem Auto und bleibe in Embryonalstellung im Gras liegen. Ich murmele apathisch: „Lasst mich einfach hier zurück… Rettet euch selbst!“
Aber es ist nichts zu machen. Die Kollegen faseln etwas von „Einer für alle…“ und stellen mich wieder auf die Füße. Verdammt, in der Firma sind die nie so hilfsbereit!

Mittlerweile ist auch das Auto von Kollegin Singer eingetroffen, die mit den Kollegen Fröhlich, Wander und Schmidt das restliche Team anliefert.
Die Frage der Zimmerverteilung hatten wir bereits vorab geklärt: Da Kollegin Singer und ich die einzigen Frauen im Team sind, war klar, dass wir uns das Zimmer teilen würden.
Kollegin Singer ist eine introvertierte, ruhige Person. Man sagt zwar „stille Wasser fließen tief“, aber ich bin mir bei ihr ziemlich sicher, dass sie nicht versuchen wird, mich des Nachts mit einem Kissen zu erwürgen.

Wir neun gehen erst einmal ins Sekten… äh, Seminar-Hauptgebäude, wo man uns mit Bettlaken, Handtüchern und einem winzigen Stück Seife, sowie der Programmbeschreibung der nächsten Tage ausstattet. Ich hätte fast erwartet, dass man uns noch kleiderähnliche Leinengewänder reicht, aber vermutlich warteten sie damit bis zum zweiten Tag, um ihre Opf… ähm, Gäste nicht direkt abzuschrecken…

Vollgepackt mit unseren Sachen, traben wir in einer Polonaise – jeder einen kleinen Berg Bettlaken und Ausstattung vor dem Bauch haltend – den schmalen Trampelpfad entlang, an dessen Ende sich die Ferienwohnung befinden soll.
Mein Magen knurrt derweil und ich überlege laut: „Ich hätte jetzt wahnsinnig große Lust auf eine Lauch-Hackfleisch-Suppe…“ Rüssel kommentiert: „Also ich esse ja kein Fleisch.“ Ich korrigiere meinen Gedankengang: „Okay, wie wäre es mit Lauch-Pilz-Suppe?“ Fröhlich ruft entsetzt dazwischen: „Da wäre dann doch auch Käse und Sahne drin? Ich vertrage ja keine Milchprodukte.“ Ich unterdrücke einen Seufzer und justiere meinen Gedanken nach: „Brühe mit Lauch und Pilzen?“ Kollegin Singer mosert: „Lauch!? Wer mag denn schon Lauch…“ Ich rolle mit den Augen: „Dann eben kein Essen. Aber wie wäre es mit einem gemeinsamen Tee?“ Meier grunzt: „Ich mag keinen Tee!“

Ehe unsere Diskussion über die persönliche Versorgungsart ihr erstes Blutopfer fordert, erhebt sich aus dem Dickicht eine windschiefe Holzhütte, die wohl das versprochene Ferienhaus darstellen soll.
Andächtig bleiben wir stehen und schauen uns um: Wir befinden uns mitten in einer naturbelassen-waldigen Umgebung. Im Umkreis von 15 Kilometern sind nur noch andere, weit auseinanderliegende Holzhütten und natürlich das Seminar-Gebäude, das nun wirklich keinen vertrauensseligen Eindruck erweckt.
Unser plötzliches Schweigen wird nur durch das Rauschen der Baumwipfel unterbrochen.
Ich mache als erste einen Schritt auf die Holzhütte zu und murmele gutgelaunt vor mich hin: „So fangen Horrorfilme an!“


(Hier geht es weiter mit Teil 2/3)

 

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

56 Kommentare zu “59 | Sozialhaft – Teil 1/3

  1. Allein schon ein Zimmer teilen zu müssen, wäre schon der blanke Horror für mich und schadenfroh, wie ich bin, freue ich mich auf die Fortsetzung 😀

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  2. …genau das dachte ich auch…HORROR!!!! diese zwang(s)hafte Annäherung finde ich sowas von blöd, in der Schule war das schon unwirksam! Ich bin auf die Fortsetzung gespannt!!!!!…sehr sogar…..

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  3. Horrorvorstellung… wie soll man das denn überleben…nein ich meine nicht deine/die Sozialhaft…
    gemeint ist der Druck, der sich bei mir inzwischen aufgebaut hat…auch bekannt als schnöde Neugierde…
    ich soll jetzt tatsächlich eine ganze Woche warten auf die Fortsetzung…korrekt alle sollen warten…auch das ist eine gewisse Sozialhaft…hier werden alle Leser gemeinsam auf die Folter gespannt

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  4. Herrlich geschrieben *ganz breites Grinsen*. Ich empfehle, Buch über Serienmörder auf das Nachtkaestchen legen, dann sollte sich die Zumutung von 2er Zimmern durch Flucht der Zimmergenossin hoffentlich von selbst erledigen 😉
    Aber in Zeiten von binge-watching jetzt 1Woche auf die Fortsetzung warten zu müssen, ist eine wahre Geduldsprobe für die Leser! 🙂

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  5. … es tut mir wirklich leid klein Roe aber dein Horror ist für mich purstes Vergnügen… muss jetzt aber Magnesium einwerfen, habe einen Bauchmuskelkrampf bekommen 😉

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  6. Auf Chorwochenenden teilen wir uns auch immer Zimmer, aber das ist erstens freiwillig (wer mag, kriegt auch Einzelzimmer), zweitens verbindet das gemeinsame Interesse, drittens sind wir sowieso nur zum Schlafen auf dem Zimmer (essen, proben, essen, proben, essen, proben, Wein trinken, tanzen, essen), viertens werden wir bekocht (unsere Probenwochenendenbeauftragte sucht die Quartiere auch unter dem Gesichtspunkt Verpflegung aus) und fünftens habe ich neulich nach den Konzerten in der Kneipe wieder mal festgestellt, dass es in diesem Chor wirklich egal ist, mit wem man am Tisch landet, es ist immer lustig – vor allem, nachdem ich festgestellt habe, dass die einzige Person, mit der ich nicht so gut kann, eine geradezu perfekte Verkörperung des Mr. Collins aus Austens Stolz und Vorurteil (Colin-Firth-Fassung) ist, nicht vom Aussehen, aber von der pompösen Selbstgefälligkeit… :-D. Hat großen Unterhaltungswert.
    Mit Kollegen kann ich mir das nicht vorstellen, daher herzliches Mitgefühl. Ich finde schon Betriebsausflug oder die Betriebsweihnachtsfeier anstrengend bis unzumutbar… – hat bestimmt einen Grund, warum Drangsal/Trübsal auf Englisch aus dem Lateinischen kommend „(be)tri(e)bulation“ heißt…

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  7. Ich liege in der Ecke und habe Schnappatmung. Es tut mir so leid, aber ich kann nicht aufhören zu lachen. Ich wäre gerne Mäuschen, aber bitte nur mit Käse-Lauch-Hackfleisch und Lactase Tabletten…. göttlich😂

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  8. Immerhin lebst du noch, das lässt hoffen. Auf die Fortsetzung(en), selbstverständlich. 😀

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  9. Dann lasst euch mal fein sozialisieren 😀
    Wünsche angenehmen Aufenthalt!

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  10. Ich habe jetzt irgendwie auch Lust auf Käse-Lauch-Suppe ohne Käse, Lauch und Suppe …

    Immerhin: Du lebst noch. Und du sprichst sehr nett über deine Kollegen, bislang. Das war also ein voller Erfolg und muss deshalb wiederholt werden. 😀

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  11. Schade, dass ich eine Woche warten muss bis zur Fortsetzung!!

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  12. Horror für dich – Lesevergnügen für mich! Schade nur, dass ich eine geschlagene Woche darauf warten muss wieder von Ohr zu Ohr zu grinsen 😀

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  13. Na das ist ja ein tolles Setting zum Motto „Schlagt euch nicht tot“.
    Ich hätte da noch ein paar Kollegen zum vorbeischicken…. 😬

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  14. Ein paar gute-Ratschläge-Pinkler die ich gern vorübergehend loswerden möchte – zumindest bissie ihre Blase anderswo entleert… 😉

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  15. Ich werf mich weg vor Lachen – und bin froh, dass es mich nicht getroffen hat.

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  16. Klingt spaßig oO

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  17. Mir gefällt euer Plausch. Ich wollte, ich könnte etwas von diesen Köstlichkeiten in die nächste Woche rüber retten, wenn ich wieder arbeiten m u ß, heul, jaul schluchz. Obwohl genau genommen, ist gegen das was sich bei uns abspielt eine Daily Soap gar nichts.

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  18. Pingback: 60 | Sozialhaft – Teil 2/3 | Roe Rainrunner

  19. Das ist so genial geschrieben. Erinnert mich an unser Firmen Treffen.

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  20. Pingback: Anderwelt: Dezember 2016 – Zeilenendes Sammelsurium

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