Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

70 | Klo-Rollen in Kleidern

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Ich bin noch nie geflogen.
Wenn ich das offenbare, sehen mich die Leute stets irritiert an.
Ja, ich meine geflogen im Sinne von: Heißluftballon, Zeppelin, Segelflugzeug, Düsenjet oder Linienflieger. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie weiter als 300m von der Erde entfernt. Und selbst die bin ich gelaufen.
Wenn ich mich also für einen besonders bodenständigen Menschen halte, ist das keine Einbildung.

Meine Eltern entstammen der Generation, für die Autos die Freiheit bedeutete, jederzeit überall hinfahren zu können. Vor allem aber hieß es, von irgendwo wegzukommen.
Deswegen gehört meine Sippe zu den Auto-Urlaubern, die sich Anreisen im Flugzeug schon allein deswegen nicht vorstellen können, weil man dann ja das schreckliche Fünf-Sterne-Hotel kaum verlassen könnte.

Eine der vielen Familien-Legenden beschreibt, nach welchen Kriterien meine Eltern ein neues Auto erwerben: Die Erzeuger stehen bei einem Autohändler und begutachten edle Neuwagen. Der Verkäufer erläutert gestenreich Hubraum, Kraftstoffverbrauch und PS des Gefährts, bis er von meinen Eltern völlig verdutzt stehengelassen wird. Sie schauen sich derweil ein komplett anderes, in der Regel nicht mehr sonderlich gut erhaltenes Vehikel an, wechselen kurz ein paar verliebte Blicke und fordern nach einem knappen „Der isses!“ die Schlüssel-Herausgabe. Alles, was für meine Eltern bei einem Auto zählt, ist eben, dass es genügend Stauraum für die vier Familienkoffer bietet…

Bevor es mit dem Auto Richtung Urlaubsziel geht, vollzieht sich im Hause Rainrunner stets das folgende Ritual: Vater Rainrunner tritt zur Haustür hinaus, faselt irgendwas von „Großer Inspektion!“ und legt ein wichtiges Gesicht auf, als wäre der halbe Stammbaum abgestorben und er selbst jetzt dafür verantwortlich, den Fortbestand der Menschheit zu sichern.
Die besagte Inspektion besteht hauptsächlich daraus, das gesamte Auto einmal auseinander- und im Anschluss wieder zusammenzubauen. Dabei werden Erste-Hilfe-Kästen überprüft, Kühlwasser und Öl nachgefüllt, Ersatzreifen aufgepumpt (oder überhaupt mal welche besorgt), und – wie sich das eben gehört – die guten Auto-Sitze mit Polyester-knautschenden grellfarbenen Schonbezügen verhüllt. Der Deutsche ist sehr gern am Strand, aber er will den Strand nunmal nicht in seinem Auto.
Während der Oberst noch die am Auto angebrachten Reifen zählt, wartet die Hausherrin, ob schwarzer oder weißer Rauch aus dem Auspuff kommt. Wenn die Motorhaube zufällt, ist der Moment endlich gekommen: Habemus Urlaub!

Als echte Auto-Urlauber lassen meine Eltern sich nicht von 16-stündigen Anreisen bei 48°C im Schatten abschrecken. Das Motto lautet: „Vorbereitung ist alles!“
Lektion Nummer 1: Es kann jederzeit vorkommen, dass Mutter Natur ihren Lauf fordert. Oder anders gesagt: Wenn keine Raststätte in Sicht ist, wird eben hinter den Busch gepinkelt. Der Oberst vertrat hierbei jedoch schon immer die Ansicht, dass auch ein Wildpinkler kein Höhlenmensch ist. So kommt es, dass die ersten Dinge, die in das Auto wandern, ein 5-Liter-Kanister mit frischem Wasser zum Händewaschen, dazu ein Stück umweltfreundliche Kernseife, ein Handtuch und natürlich eine Rolle Klopapier sind.

Selbstverständlich besitzen meine Eltern auch eine der berühmten ‚Klo-Rollen-Puppen‘: Es handelt sich dabei um eine kleine weibliche Puppe in einem Strickkleid, die in eine Klopapier-Rolle hineingesteckt ist. Das Kleidchen wird herunterzogen und über die Rolle gestülpt, sodass es aussieht, als trüge die Puppe ein rauschendes Ballkleid.
Diese Klopapier-Puppe wird übrigens nie zu ihrem vorhergesehen Zweck verwendet. Sie steht lediglich als Dekoration auf der Hutablage und ist unter Auto-Urlaubern so etwas wie das geheime Erkennungszeichen.

Nach der Natur-Klo-Ausrüstung wandern als nächstes die vier bereits erwähnten Familienkoffer ins Auto. Es handelt sich bei diesen nicht etwa um neumodische Hartschalenkoffer, sondern um graue Lederbehältnisse, die je nach Befüllung das Aussehen einer schwangeren Nashorndame annehmen können.
Vater Rainrunner überwacht die Koordination der Stauraum-Verwaltung höchstpersönlich.
Nachdem die vier Koffer, einige Reisetaschen, etliche Schuhbeutel, Luftmatrazen samt Pumpen und sonstiger Kleinkram ihren Weg ins Innere des Wagens gefunden haben, ist der Kofferraum so voll, dass ein normaler Mensch ihn ohne Seile nicht mehr zu schließen vermocht hätte. Meine Mutter schleppt derweil noch Badetaschen, Regenschirme und diverse Jacken für alle auf dem Planeten vorherrschenden Klimaverhältnisse an. Mein Vater blickt auf den bis zum Rand gefüllten Kofferraum, dann auf die vor dem Auto wartenden zwölf Kubikmeter Gepäck und spricht diesen einen familienfrieden-erhaltenden Satz aus: „Das geht locker noch alles da rein!“
In der Tat kann ich mich nur an einen einzigen Sommer in meiner Kindheit erinnern, in dem mein Vater den Kofferraum nochmals kurz ausladen und Tetris spielen musste – ansonsten schaffte er es immer auf wundersame Weise, in nur einem Versuch alles völlig unbeschadet unterzubringen.

Auch der Innenraum des Autos wird optimal ausgenutzt: Für mich wurde früher zwischen dem zurückgefahrenen Beifahrersitz und einer großen Kühltruhe eine Art Nest geschaffen, bis zu dem die gesamte Rückbank beladen wurde. Hierbei legte mein Vater stets größten Wert darauf, dass nie höher als bis zur Fensterscheibe gestapelt wurde. Denn immer wenn uns auf der Autobahn andere Klopapier-Puppen-Besitzer begegneten, deren Wagen sichtbar bis zum Auto-Himmel beladen war, sah mein Vater den guten Ruf der Auto-Urlauber ruiniert und es fielen herablassende Sätze wie: „Schaut euch die Idioten vom Plastiktüten-Geschwader an!“ oder auch: „Das sind doch bestimmt Deutsche!“
Nicht mit meinem Vater. Er nagelte die letzten Gepäckstücke an den Auto-Unterboden und vermaß die Gesamthöhe des Fahrzeugs mit Dachgepäckträger für eventuelle Brücken-Unterfahrungen. Danach begutachtete er sein Werk, strahlte meine Mutter an und kommentierte höchst zufrieden: „Siehst du Schatz, ich hab dir ja immer gesagt, für ein zweites Kind wäre einfach kein Platz mehr gewesen!“

Der nächste kriegsentscheidende Vorbereitungspunkt ist die Unterhaltung während der Autofahrt. Einst schaute ich meinen Vater aus großen Rehaugen an und fragte, ob ich ein paar meiner Metal-Kassetten einstecken könnte. Er blickte mich sanft an, legte den Arm um meine Schultern und sagte engelsgleich: „Mein Kind, du kannst soviele Metal-Kassetten mitnehmen, wie du möchtest.“ Dann fuhr er mit lauter Stimme fort: „ABER WIR WERDEN UNS KEINE DAVON ANHÖREN!“

Bereits nach wenigen Wochen sind die Vorbereitungen abgeschlossen und das Auto wird dreimal verriegelt (immerhin könnte ein potentieller Autodieb nicht nur das heilige Wägelchen, sondern auch den gesamten Rainrunner’schen Hausrat ergaunern).
Meine Eltern wenden sich danach den vom ADAC gesendeten Straßenkarten zu, malen mit roten Stiften Autobahn-Strecken vor (möglichst ohne niedrige Brücken…) und legen sich früh schlafen. Der kluge Auto-Urlauber beginnt seine Fahrt nämlich um 04:00 Uhr morgens, weil „Da ist auf den Straßen noch nichts los!“ (behaupten sie übrigens alle, weswegen man dann auch um Punkt 04:30 Uhr im Stau steht).

Bestandteil des Abfahrtsrituals meiner Kindheit war, mich am Vorabend ganz lange aufbleiben zu lassen, dann in den frühen Morgenstunden noch schnorchelnd ins Auto zu verladen und unter einem Kopfkissen zu begraben. Auch in unserem Stammbaum gilt nämlich das Motto: „Nur schlafende Kinder sind gute Kinder.“

Was dann folgte, war eigentlich ein Fall für Menschenrechtsorganisationen: Nachdem ich im Laufe des Vormittags aufwachte, wurde mir mitgeteilt, dass wir schon fast da wären. Diese Lüge hörte ich dann für die nächsten zwölf Stunden in Endlosschleife. Ich wurde permanent zum Öffnen und Schließen der Kühltruhe ausgenutzt und musste ständig dienerhaft Getränke und Butterbrote anreichen. Die gesamte Fahrtdauer wurde ich abwechselnd mit ABBA und den Bee Gees gefoltert, während mein Vater laut (und vor allem falsch) mitsang und mich animierte, ebenfalls mitzugröhlen.
Im Wagen-Inneren herrschte aufgrund der fehlenden Klimaanlage eine so enorme Hitze, dass die zuckrigen Bonbons, welche meine einzigen Trostspender darstellten, sich in den flüssigen Aggregatzustand begeben hatten. Wenigstens war das Lutschen dann keine schweißtreibende Angelegenheit mehr. Derweil hatten meine Eltern sich aufgrund der hohen Temperaturen bis auf das Unterhemd ausgezogen (beide!).
Es war wirklich schwer, so zu tun, als ob ich diese Verrückten nicht kenne, während ich im selben Auto saß!

Wenn wir unser Fahrtziel nach stundenlanger Irrfahrt über immer gleich aussehende Autobahnen endlich erreicht hatten, hatten wir uns den Urlaub wenigstens redlich verdient!

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

93 Kommentare zu “70 | Klo-Rollen in Kleidern

  1. und ich kann nicht autofahren

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  2. Das erinnert mich an meine Kindheit, außer dass ich mir das Nest mit meinem Bruder teilen musste 🙂

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  3. Habe in der Kindheit ähnliches erlebt.. sehr schön und witzig beschrieben! 😂👍

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  4. So Klasse. Irgendwie war es doch überall ähnlich.

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  5. Das sah bei uns ganz ähnlich aus lol 🙂 Aber ich musste mir die Rückbank mit meiner Schwester teilen und hatteirgendwann einen walkman….

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  6. Genau so lief meine kindheit ab, nur ohne Toilettenpuppe und mit Bruder😁Suesse, die Menschheit hat sich weiterentwickelt *insFlugzeugzerr*……PS: Autobesitz ist gerade dabei auszusterben😁

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  7. Klasse be- und geschrieben und ein voller Lacherfolg, aber einen Dämpfer gibt es trotzdem für mich, denn ich bin wohl kein echter Deutscher, da ich zwar auch am liebsten mit dem Wagen in den Urlaub fahre, aber diese Rituale nie vollzogen habe. Bereits unsere Anreise muss zwingend schon zum Urlaub gehören, damit wir bereits voll entspannt am Ziel ankommen 🙂

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  8. Was ein Flashback – Das bringt Erinnerungen mit sich. Nur meine Eltern liessen sich doch von, in ganz jungen Jahren – Hörspiele – in Teenie-Jahren – 80er Jahre Musik berauschen. Denke ich jeden Falls – ich habe immer diese – wie gefühlte Steine – Reisetabletten bekommen, die mich sofort haben schlafen lassen – sehr geschickt mir Reiseübelkeit einzureden um mich zum Schweigen zu bringen.
    Liebe Grüsse

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  9. Bei uns war es eher der Wackeldackel statt Klorolle.
    Ich pendelte als Kind zwischen Frankreich und Deutschland, hinten in einen Sportwagen für 2 Personen.
    Der Dackel wackelte oft so arg, dass er sein Kopf verlor 😀

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  10. Meine Familie gehörte zu den Fliegern. Wir sind immer geflogen. Überallhin. Ich glaube als ich etwa 10 war, ist es mir dann ENDLICH gelungen meine Eltern von einem NORMALEN Urlaub zu überzeugen. Also … einen, wo man mit dem Auto hinfährt :p Das haben wir exakt einmal gemacht … danach? NIE WIEDER! ^^ Heute kriegt mich allerdings keiner mehr ins Flugzeug. Mein Sohn wird also zunächst auch mit Autourlauben leben müssen 🙂

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    • Tja, die Frage ist immer, wo es hingeht. Der 16-Stunden-Trip nach Kroatien hätte sich mit einem 2-Stunden-Flug kürzen lassen 😀

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      • Bei uns waren Fahrzeiten von 8 Stunden schon WEIT weg 😉 Und somit zu viel.

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        • Heute würde ich für sowas den Zug nehmen. Da kannst du dich in Ruhe beschäftigen, was lesen, Kreuzworträtsel ausfüllen, mit den Kindern Brettspiele spielen, es regelrecht genießen. Und jederzeit auf’s Klo gehen oder was Essen. Flugzeug hört sich für mich auch nicht so bequem an 😉

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          • Flugzeuge sind schon bequem … es sei denn man fliegt in so einer Nussschale, wie sie gern bei 2 Std flügen eingesetzt werden ^^! Da spürt man dann aber auch jeden Windhauch. Aber es fehlt halt der Boden …. *hust* Zug fahren find ich allerdings schlechter als mit dem Auto. Da kann ich wenigstens anhalten, wann immer ich es will ^^ Und ich reise nur mit den Leuten mit denen ich reisen möchte 😀

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  11. Bei dir mitzulesen ist wie Wunderbare Jahre gucken. Flashback pur 🙂

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  12. So verändern sich eben die Zeiten…
    Herrlicher Text!

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  13. herrlich! bei uns war immer die frage, ob wir noch das grosse schlauchboot mit rudern in den kofferraum bekommen, denn das MUSSTE mit an den gardasee 🙂

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  14. Großartig! Ich erkenne SO vieles wieder! Allerdings durfte ich meine Metalkassetten hören…allerdings auch nur, weil Metal in den Ohren meiner Eltern angenehmer klang, als mein andauerndes Gemecker darüber, dass alles scheisse ist 😉 (naja gut…Cannibal Corbse durfte ich auch nicht hören im Auto, aber so Sachen wie Maiden und Metallica gingen…)

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  15. Auch bei mir weckt dein Text Erinnerungen an so manchen Urlaub. 😀 Ich muss sagen das ich eigentlich aus einer Flieger Familie komme, da wir immer in den Urlaub nach Irland gehen eigentlich nicht sehr verwunderlich. Seit aber jetzt schon einer gefühlten Ewigkeit legen wir die Strecke immer mit Auto und Fähre zurück. Da erkenne ich so maches was du erzählst in meinen Erlebnisen von unseren langen fahrten wieder.

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  16. Ich wette, ihr habt seinerzeit über unsere Familienkutsche auf der Autobahn gelacht. Vollgepackt, bis das Auto fast auf dem Asphalt schleifte und aus viel zu viel Gepäck haben drei Kinderköpfe herausgelinst…ohne Sicherheitsgurt damals 🙂

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