Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

73 | Zucht und Ordnung

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„Na Roe, heute schon wen umgelegt?“
So begrüßt mich ein Kollege frechgrinsend. Wortlos, aber hörbar grummelnd, halte ich eine Liste nach oben, auf der eine beachtliche Anzahl von potentiellen Todeskandidaten vermerkt ist.
Ja, ich habe in meiner Firma einen gewissen Ruf. Man sagt mir nach, ich sei eine Perfektionistin, die – wenn es um Qualität geht – keine Gnade kennt. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich mit mir selbst mindestens genauso streng bin.
Ein wenig hängt das natürlich auch mit meiner beruflichen Rolle zusammen: Als Supporter stehe ich zwischen Software-Entwicklern, die gerne mal Fehler in unsere Anwendungen einbauen; sei es aus Nachlässigkeit oder aufgrund hohen Zeitdrucks. Und auf der anderen Seite Kunden, die wiederum ihren Hass über nicht funktionierende Software in beeindruckender Lautstärke und unter Verwendung kreativer Schimpfworte loswerden. Und zwar bei mir. Ich muss meinen Kopf hinhalten, bin das Opferlamm, der Sündenbock oder einfach nur ein menschliches Schutzschild. Entsprechend wichtig ist mir Qualität, denn: Ist die Software fehlerfrei, ist der Kunde glücklich. Ist der Kunde glücklich, lässt er den Supporter in Ruhe. Und wenn mir keiner auf den Keks geht, bin ich ebenfalls glücklich.

Eine von vielen Firmen-Legenden besagt, dass ein Werkstudent dem Super-Supporter eine Arbeit vorlegte und dieser eine Korrektur einforderte: Genau einen Zentimeter mehr Bildrand in der Software. Die Geißel der Software-Entwicklung kündigte an, dies nach Ausführung mit dem Lineal prüfen zu werden. Und marschierte davon.
Der Werkstudent legte kurz darauf seine korrigierte Arbeit vor und der Ober-Supporter zückte, sehr zum Erstaunen des angehenden Programmierers, tatsächlich ein Lineal. Natürlich hatte der Bildrand nicht den geforderten Zentimeter, sondern nur neun Milimeter. 10% Abweichung, untragbar! Dafür hätte man das Lineal sofort zweckentfremden können!
Der Sage zufolge blieb der Werkstudent aber unversehrt. The Head of Support hatte offenbar einen ausgesprochen guten Tag und Mitleid mit dem Jüngling.
Das alles ist schon viele viele Jahre her. Besagter Student hat seinen Abschluss längst erfolgreich hinter sich gebracht und wurde in der Firma in eine hohe Position übernommen. Immer, wenn der Gute anfängt, ein wenig machtbesessen zu werden, marschiere ich im Stechschritt an seiner offenen Bürotür vorbei und brülle: „EINEN ZENTIMETER, HATTE ICH GESAGT! EINEN!!!“ Er soll ja nicht glauben, dass ich das je vergessen werde!

Unseren festangestellten Entwickler-Kollegen ist das Konzept qualitativ hochwertiger, funktionierender Software ebenfalls noch nicht ganz verständlich. So trabt mal wieder eine ganze Horde Programmierer in meine heiligen Hallen und berichtet vom neuesten Lapsus: „Öhm… Es wäre möglich, dass wir einen Fehler im Programm haben, der das Arbeiten mit unserer Software ein wenig äh… verhindert.“ – „Aha. Hat etwa ein Kunde die betroffene Version schon bekommen?“ – Äh, ja nun… 380 Kunden, um genau zu sein…“ Ich blicke dem Sprachrohr der Gruppe tief in die Augen: „Ich sehe tote Menschen. Und zwar direkt vor mir!“ Die Meute kann sich nur durch einen beherzten Sprung aus der Bürotür retten.
Während das Telefon konstant durchschrillt und keifende Kunden mich fragen, was für inkompetente Arschlöcher wir eigentlich an die Tastatur lassen (was hätte ich manchmal Lust, auf diese Frage einfach kommentarlos die Namen und Adressen via E-Mail zu verteilen…), überlege ich mir, wie meine Rache wohl aussehen wird.
Zur Inspiration schmökere ich durch unsere Entwicklungsumgebung und finde heraus, dass man die Qualität des Programmcodes anhand bestimmter Einstellungen ad absurdum führen kann. Alles, was man braucht, ist das Master-Passwort. Ich tippe ‚Wokpfanne1998‘ und ein grünes Hakensymbol bestätigt meine Vermutung. Sie sind einfach zu leicht zu durchschauen… Ich navigiere zu den Einstellungen und lese ‚Rechtschreibfehler in Dialogen einstufen als: Info / Warnung / Kritischer Fehler‘. Ich wähle ‚Kritischer Fehler‘ und sofort blinken 300 zusätzliche Fehler im Programmcode auf. Ich lächele. ‚Unschönen Programmcode einstufen als: Kritischer Fehler‘. ‚Absätze/Leerzeichen/Tabs einstufen als – Kritischer Fehler.‘
Nachdem ich mein Werk beendet habe, blinkt der Entwicklungsserver in Alarmstufe schwarzrot mit 12.871 kritischen Fehlern. Auf dem Flur laufen kreischend Programmierer zusammen, schütten sich in Panik gegenseitig Kaffee über die Karohemden und rennen im Schock orientierungslos gegen Bürotüren und Wände.
Mein Telefon klingelt erneut. Wenn ich schon leiden muss, wieso sollte es allen anderen dann besser gehen?

Vormittags steht ein Vertriebler in meiner Bürotür. „Unser Großkunde hat einen Produktionsstillstand!“ – „Ich weiß.“ – „Ja, willst du da nicht mal was tun?!“ – „Hab ich doch längst. Der Kunde muss jetzt mit seiner IT-Abteilung sprechen, da das Problem nicht auf unserer Seite liegt.“ – „Ja und weiter?!“ – „Ähm, weiter spricht der Kunde mit seiner IT-Abteilung und meldet sich danach, weil vermutlich wieder alles geht?!“ – „Kannst du nicht mit denen sprechen?“ – „Nein, weil das ein IT-Dienstleister ist, mit dem wir keinen direkten Vertrag haben.“ – „Aber da musst du doch was machen!“, rudert das Vertrieblerchen verstört mit seinen Armen und setzt zu einer langen und wortreichen Predigt an, wie ich meinen Job zu erledigen habe. Als er endlich fertig ist, hängt ihm sein Schlips kraftlos über der Stirn. Mit arrogantem Unterton stößt er ein: „So!“ hervor, dreht sich selbstgefällig um und weht aus meinem Büro.
Das, Freundchen, wird Konsequenzen haben… Ich setze ihn auf meiner Todeskandidaten-Warteliste ganz nach oben.
Erstmal ziehe ich mir in der Teeküche am Snackautomaten drei Schokoriegel. Mitmenschen Lektionen zu erteilen, kostet schließlich Energie. Danach trabe ich in sein Büro und grüße unterwegs die Sekretärin, welche meine Erscheinung grußlos, aber mit hochnäsigem Blick über ihren Brillenrand zur Kenntnis nimmt (Ja, meine Liebe, ich habe das genau mitbekommen. Du bist direkt die nächste…)
Ich beginne mit den Klassikern der bürointernen Bestrafungsorgie: Screenshot vom Desktop in Vollansicht, damit er irritiert auf die Symbole im Bild klickt. Drehen der tatsächlichen Monitoransicht um 90 Grad, wobei ich gerne zuschauen würde, wie er mit schiefgelegtem Kopf verzweifelt nach der Einstellung sucht, um es wieder rückgängig zu machen (leider haben die Arbeitslaptops keine Kamera…). Leichtes Lösen, aber nicht Herausziehen des Netzwerkkabels aus der Dockingstation, damit er sich wundert, wieso die Netzwerk-Verbindung nicht mehr besteht. Handcreme im Scrollrad der Maus, damit sich der Vertriebler seinen Zeigefinger wundkullert (soll einer behaupten, eine Sehnenscheidenentzündung könne man nur am Daumen bekommen). Vollständiges Entfernen des Stromanschlusses (so eine nicht-gespeicherte Kunden-Präsentation, die aufgrund des irgendwann leeren Akkus gelöscht wird, ist immer der Höhepunkt zur Herzinfakt-Vorstufe). Und dann noch ein wenig Aktionskunst: Milchkaffee fein dosiert im schwarzen Polster der Sitzfläche des Bürostuhls ist für das menschliche Auge unsichtbar, ergibt jedoch einen wunderbaren braunen Effekt auf der Vertrieblerhose – meine doppelte Interpretation des Wortes ‚Stuhl‘.
Zufrieden verlasse ich das Büro wieder und lächele der Sekretärin freundlich zu, die auch dieses Mal lediglich eine Schnute zieht. Tja, Chance vertan. Wieder in meinem Imperium angekommen, deaktiviere ich erstmal die Farbpatrone ihres Laserdruckers und stelle das Standard-Drucker-Papierfach auf DIN-A3 um. Mal sehen, wie sich unsere Kundenflyer in Postergröße machen…
In der Zwischenzeit vermeldet der Großkunde artig, das sein IT-Dienstleister das durch ihn selbst verursachte Problem gelöst hat. Ein friedvolles Lächeln überzieht meine Lippen.

Und dann ist da noch mein Chef, der immer die Betreffe von meinen Supportfällen ändert, sodass ich nichts wiederfinde.
Cheffe ist großer BVB-Fan, was er offen mit seinem Schlüsselbund zur Schau trägt, den er stets promiment auf dem Schreibtisch platziert und an dem eine BVB-Schlüsselkette befestigt ist.
Als er jenen Schlüsselbund während einer Mittagspause mal wieder unbeaufsichtigt lässt, nutze ich die Gelegenheit, die BVB-Kette zu entfernen. Und einfach mal durch ein Schalke-Band zu ersetzen. Den Schrei konnte man auch noch vier Stockwerke weiter hören.

So, mal sehen, wer als nächstes auf meiner Liste steht…

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

50 Kommentare zu “73 | Zucht und Ordnung

  1. Du bist ein total liebes nettes Mädle.
    Einfach mal BVB gegen Schalke tauschen.. Hezinfarkt vorprogrammiert.
    Na denn..auf eine neue Runde 😉

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  2. Ich glaube, ich muss doch irgendwann mal ein Kuchenpaket schnüren, damit ich nie auf dieser Liste lande. 😀

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  3. … Engelchen… wir würden uns an manchen Tagen super verstehen… und an den anderen aus dem PC Wegen gehen… aber niemals würde ich dein Krönchen in eine Schieflage bringen… 🐻

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  4. Welch martialisch-strategischer Verstand waltet hier? :kotau:

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  5. „Zucht und Ordnung“ ein fürcherliches Regime 😉 aber 😎
    ASSOZIATIONEN:
    (sich) anpassen · (sich) beugen · gehorchen · …
    blinder Gehorsam · Kadavergehorsam · unbedingter Gehorsam · …
    Folgsamkeit · Fügsamkeit · Gehorsam · …
    geordnete Zustände · Ruhe und Ordnung
    Duckmäuserei · Duckmäusertum · Untertanengeist
    Kim Jong Un wendet es auch an.😃

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  6. Ich lach mich weg 😀 Wir beide in einer Firma und keiner redet mehr über Nordkorea 😀 Dafür wäre alles perfekt, bis auf die Psyche der anderen 😉 Schönes Wochenende liebe Roe 🙂

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  7. Ich lach mich schlapp! Danke für die Lachtränen in meinen Augen, ich würde dich lieber grüßen, als auf deiner Todesliste zu landen 😂😂

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  8. Hab das natürlich an mein geliebtes „Karohemd“ – inzwischen hängt keines mehr im Schrank – weitergeleitet. Und hätte ich aufgrund der Operationswunden nicht so einen derart schmerzenden Bauch, könntest du jetzt vermutlich eine ziemlich laute Lache durch’s Netz wabern hören. Die technischen Nebensächlichkeiten zwinkern wir eben mal satirisch bei Seite….
    😀

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  9. Oh himmel das war seit langem wieder etwas wo ich richtig Spaß beim Lesen hatte und Tränen gelacht habe 😂

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  10. Hat dies auf Meine Erlebnisse im Altenheim rebloggt und kommentierte:
    Ich habe mich schlapp gelacht!!! 😀 😀 😀

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  11. Heeeee duuuuu? Sag mal, wann schreibst du denn mal wieder?
    Ich gucke ganz lieb auf deiner Seite des Bildschirms raus. Siehst du mich, zwinkerzwinker?
    Liebe Grüße,
    Meermond

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