Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

76 | Ora et labora et dystopia

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Seit Stunden befasse ich mich mit derselben Arbeitsaufgabe.
Für einen deutschen Beamten mag dies etwas ganz Alltägliches sein. Für einen Supporter, der nichts anfangen kann, ohne gleich wieder unterbrochen zu werden, ist es ausgesprochen ungewöhnlich.

Wie oft lese ich Artikel über das ablenkende und unproduktive Multitasking? Dass man nur einmal am Tag E-Mails lesen und das Telefon stets ausgeschaltet lassen soll, um in Ruhe arbeiten zu können. Supporter können von so etwas nur träumen.
Für gewöhnlich habe ich drei Vorgänge gleichzeitig geöffnet, während das Telefon mit schrillem Ton einen vierten Eingang ankündigt. Natürlich ist es ein akuter Notfall: Irgendeine superwichtige Person kann eine extrem brisante Funktion in einer absolut notwendigen Anwendung nicht bedienen, weil dann eine sonderbare Fehlermeldung kommt, die auf keinen Fall einfach per E-Mail weitergeleitet werden kann. Wenn ich nicht sofort einschreite, wird die Welt untergehen. Und zwar JETZT!
Während ich dem Todesengel mit harmonisierender Stimme mitteile, dass weder Selbst- noch Massenmord eine Lösung ist, schreibe ich parallel einem der drei anderen Propheten, die das Ende der Welt verkünden, eine E-Mail mit ähnlichem Inhalt.
Kurz gesagt: Meine Kundenzielgruppe sind normalerweise die vier apokalyptischen Reiter.

Aber heute? Seit Stunden ist nichts passiert.
Ich wechsele zum Sammel-Postkorb und hämmere auf die Aktualisieren-Taste. Doch es tut sich auch weiterhin absolut gar nichts. Vor meinem inneren Auge rollt ein Steppenläufer durch unser E-Mail-Fach, im Hintergrund spielt das Lied vom Tod…
Mein Kopf schweift links neben den Bildschirm, ich kneife kritisch die Augen zusammen und tippe mit piekender Geste das Telefon an. Verstört ob dieser unerwarteten Behandlung leuchtet es auf und signalisiert seine Dienstbereitschaft. Zur Sicherheit nehme ich den Hörer ab und halte ihn ans Ohr: „duuuDUUUUUU“ ich lege den Hörer wieder zurück auf die Gabel, mit einem leisen „dut“ erstirbt der Ton.
Ich schnuppere in der Luft. Nichts. Es riecht weder nach Feuer noch nach verschmorten Kabeln. Also kann zumindest niemand den Telefon- oder Mail-Server abgefackelt haben.
Bevor hier jetzt jemand einwirft: „Also bitte, Server stehen doch in einem Rechenzentrum oder wenigstens Serverraum, mit Notstrom-Aggregat und Brandschutzvorrichtung. Sowas kann doch gar nicht passieren!“ Geht doch einmal in eurer Firma – und es ist dabei völlig egal, wo ihr arbeitet – in die IT-Abteilung oder das Administratoren-Büro. In irgendeiner Ecke, zwischen ausrangierter Hardware und zerknitterten Blättern, werdet ihr einen alten Desktop-Rechner finden. Darauf angesprochen, wird jemand mit einer abwinkenden Handbewegung antworten: „Das? Ach, auf der Kiste läuft nur die [superwichtige Anwendung einfügen]…“
Legenden zufolge wurde bei Umbauarbeiten in unserer Firma mal eine blinde Tür gefunden, hinter der man eine völlig verstaubte Kammer fand, in die ein schwacher Lichtschein durch ein verdrecktes Deckenfenster fiel. In diesem Raum stand unter einem Karton versteckt ein kleiner dicker Laptop, der gleichmäßig vor sich hinsurrte. Da niemand den Ursprung dieses Gerätes kannte, stöpselte man es kurzerhand ab. Daraufhin gingen im gesamten Gebäude die Rechner aus, das Licht begann zu flacken, die Sicherheits-Alarmanlage heulte los und sämtliche Brandschutztüren schlossen sich automatisch.
Glaubt mir: Wenn es um IT geht, gibt es nichts, dass so sonderbar ist, dass ich nicht schon einmal davon gehört oder es gar selbst erlebt hätte.

Derweil passiert in meinem Büro auch weiterhin nichts.
Ich durchwühle die firmeninternen Newsletter und sämtliche Intranet-Artikel des letzten halben Jahres nach gewissen Schlagworten. Diese sind: „stehen vor größeren Herausforderungen“ (= „Wir haben krasse Probleme“), „senken im nächsten Geschäftsjahr das Umsatzziel“ (= „In der Hoffnung, dass ihr hirnlosen Deppen wenigstens dieses niedrigere Ziel erreichen könnt“) oder „befinden uns in größeren Umstrukturierungen“ (= „Ihr werdet alle gefeuert!“).
Ich werde nicht fündig. Es gibt keine Anzeichen für das, was mir bevorzustehen scheint.

Ich tappse ins Nachbar-Stockwerk zur Vertriebsabteilung.
Üblicherweise erscheinen Supporter hier nur, um sich darüber zu beschweren, dass irgendeinem Kunden mal wieder Software versprochen wurde, die so in unserem Portfolio gar nicht existiert… Dementsprechend versteckt sich bei meinem Erscheinen die Hälfte der hier ansässigen Mitarbeiter hinter den im Flur aufgestellten Mini-Palmen.
Ich klopfe an die Tür vom Vertriebsleiter und trete ein. Launig erkundige ich mich nach seiner Arbeit. Sein Ego voll auslebend, faselt der Mensch von ‚Break-even-Point‘ und sonstigen Begriffen, die man im BWL-Studium lernt, welches man nur absolviert, um seine Eltern glücklich zu machen.
Doch nach einer halben Stunde auch hier: Nichts. Keine nennenswerten Informationen.
Ich trabe wieder zurück in mein Büro.

Mit meinem Schreibtischstuhl im Schlepptau verlasse ich es erneut.
Auf dem Flur schaut mich eine Kollegin irritiert an. Ihr Blick sagt deutlich: „Wat jeht die Alte hier mit dem Stuhl spazieren?!“ Ich murmele etwas von: „Defekt… Muss ausgetauscht werden… Immer diese asiatischen Billo-Stühle…“ und schiebe den quietschenden Stuhl weiter den Flur hinab. Ich stemme ihre fünfbeinige Majestät trotz aller Sicherheitshinweise in den Paternoster und gleite sanft hinauf ins Stockwerk der Führungsebene.
Vor den heiligen Hallen des Bereichsleiters angekommen, schaue ich mich unauffällig um und steige dann auf den Stuhl, um das Tageslichtfenster über der Tür erreichen zu können. Ich blicke hindurch: Mein Bereichsleiterchen hockt vor zwei Monitoren. Auf einem spielt er Solitär, auf dem zweiten schiebt sich gerade Al Bundy die Hand vorne in die Hose. Soviel zu „Ich benötige UNBEDINGT einen zweiten Monitor, um vernünftig arbeiten zu können!“
Ich richte meinen Blick auf das Whiteboard und die angepinnten Listen. Nichts Auffälliges. Keine Sozialpläne mit Hinweisen, welche Mitarbeiter ohne arbeitslosen Ehepartner, Kinder oder pflegebedürftige Anverwandte sind und damit gewissenlos sofort entlassen werden können.
Ich stecke den Feldstecher zurück in meinen BH und trottete mit dem Drehstuhl auf dem Rücken wieder von dannen.

Seufzend watschele ich in die Teeküche und mache mir einen extrastarken Kamillentee zur Beruhigung meiner Nerven. Ora et labora – bete und arbeite. Sie haben es schon vor Jahrhunderten erkannt: ‚Arbeite. Und bete, dass du morgen noch Arbeit haben wirst.‘
Ich halte die angebrochene Packung Kamillentee in der Hand, überlege kurz, ziehe dann meinen Hosenbund nach vorne und leere die Teebeutel aus. Ich werfe die ungeöffnete Packung Pfefferminztee auch noch hinterher, sowie 30 Portionen abgepacktem Zucker, dann lasse ich den Bund wieder zurückschnippen. Wer weiß, wann ich das nächste Mal etwas zu Essen oder Trinken bekommen werde…
Verzweifelt krieche ich mit der vollen Teetasse in mein Büro.

Ich blicke mich um. Weiß einer der Kollegen etwas? Gibt es einen Mitwisser? Einen Spion? Einen Maulwurf? Wissen sie es etwa alle, nur ich nicht??
Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Mein Herz rast. Meine Hände zittern. Gedanken an nicht abgeschlossene Lebensversicherungen und unvollständige Testamente besetzen mein Gehirn. Es ist vorbei. Es ist aus. Die Arbeitswelt, wie ich sie kenne, existiert nicht mehr.
Mir wird schwarz vor Augen…

Halbohnmächtig streift mein Blick den Wandkalender und ich lese, was in kleiner kursiver Schrift neben dem Stern als Fußnote vermerkt ist: In Kundenland ist heute Feiertag!

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

30 Kommentare zu “76 | Ora et labora et dystopia

  1. Es geht auch anders herum. Beim Einkauf in meinem Wohnbundesland A wurden mir derartig penetrant schöne FeiertagE gewünscht, dass ich das Einkaufen verfrüht einstellen musste, um keinen Schreikrampf zu bekommen und keine Verkäuferin zu ermorden. Arbeiten tu ich nämlich in Bundesland B. So wie Du wohl auch.

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    • Du darfst eben nur noch in Bundesland B einkaufen 😉
      Wir haben Kunden in ganz Deutschland und irgendwie haben alle mehr Feiertage als wir… *knurr* Richtig geil is immer „Schönen Feiertag“ – „Ihnen auch, oh, Moment, Sie müssen ja arbeiten.“ Ja danke, sag’s mir nur *heul* 😀

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  2. kenn ich 🙂 und man kann es einfach NICHT angemessen geniessen….

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  3. gefällt mir wie immer sehr schön…. lässt sich auch super geil auf mein job projezieren, zumindest fühl ich mich grad so und es könnte echt passieren das ich sogar weihnachten vergesse 😀 … aber gut das sich der bereichtsleiter nicht selbst in die hose gepackt hat und nur al bundy schaute 😀

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  4. Also war es doch nicht ein kleiner, dicker Laptop.

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  5. Unterschätze niemals die Macht Roe … Das von dir beschriebene Phenomän existiert wirklich und beschreibt denselben Zustand wie vor einer Naturkatastrophe, als ob die Welt für einen Moment den Atem anhält, bevor sie in sich zusammenstürzt. Also bereite dich für das nächste dark Hole vor und da ist Tee in der Unterbuxe gar nicht so verkehrt 😀

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  6. Auwacka, was ich immer mit Dir mitleide 😉
    Hoffentlich konnteste danach mal ne ruhige Kugel schieben ❤
    Liebste Grüße, a

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  7. Muahahahahaaaa…es ist GENAU SO! Als ich meinen letzten Job antrat, da lief – versteckt zwischen allen Schreibtischen in der hintersten Ecke – ein uralter Rechner. Auf die Frage danach, wozu das Ding gut ist erntete ich zunächst (da am ersten Tag wohl noch zu unwürdig, um näheres zu erfahren) ein “ FASS IHN NICHT AN – der MUSS laufen…24 STUNDEN!!!“ Ein paar Monate später, als ich dann meine Würdigkeit unter Beweis gestellt habe und zur Nachfolgerin des *hust* wegbeförderten „Keeper of the unholy PC of Doom“ erkoren wurde, wurde ich eingeweiht. Auf dem Ding lief tatsächlich ein einziger (!) Report für den obersten Boss…übelst von Hand zusammengeklöppelt und fehleranfällig aber seit Jahren unangetastet, weil nämlich keine Sau mehr wusste, wie man das Ding neu aufsetzen könnte…(es gelang mir trotzdem das Ding am Ende durch etwas zeitgemäßeres zu ersetzen…*hust* den Rechner haben wir dann ausgeschaltet…ich hoffe, damit habe ich kein Unheil angerichtet…irgendwo auf der Welt)

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  8. … jetzt weiss ich wer du bist… die Lady von „The IT Crowd“… Roe, ich muss in deine Schadensmelungshotline… es gibt nämlich nicht nur vier Apokalyptischen Reiter…

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