Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

91 | Schwer erziehbar

35 Kommentare

Ich war 13 und stand gerade unter der Dusche, als mir diese Geschichte wieder einfiel:
Es war im Kindergarten. Ich muss etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Wenn wir zum Spielen raus durften, verteilten sich die Kinder in unterschiedliche Gruppen, die meist auch unter sich blieben. Nur ein übergrüppliches Spiel gab es: Fangen. Dafür wurde zu Runden aufgerufen und ein Fänger bestimmt. Wer gefangen wurde, musste in einem kleinen Holzhäuschen ausharren, bis das Spiel beendet war. Damit die Gefangenen nicht sofort wieder aus dem türlosen Häuschen wegliefen, wurde ein Gefängniswärter bestimmt. Nur ein einziges Mal in meiner Erinnerung durfte ich diese ehrenvolle Aufgabe übernehmen.
Michi – etwa im selben Alter – wurde sofort gefangen und war damit nicht sehr einverstanden. Er diskutierte mit mir und schimpfte und meckerte. Ich tat, was ich schon immer getan hatte, wenn mich etwas nervte: ich drehte mich um und ignorierte ihn. Tatsächlich verstummte das Gemotze.
Was jedoch dann folgte, war mir noch nie passiert: Ich spürte einen entsetzlichen Schmerz auf meiner Rückseite – Michi hatte mich in die Wirbelsäule gebissen, und das nicht zu knapp! Wie im Rausch wirbelte ich herum, holte aus und… boxte Michi mitten ins Gesicht. Michis Nase und Mund verwandelten sich augenblicklich in blutige Springbrungen und ohrenbetäubender Lärm ergoß sich über den Vorplatz des Kindergartens. Die Kindergärtnerinnen glaubten wohl, der arme Junge wäre gestürzt und ergriffen Erste-Hilfe-Maßnahmen. Ich selbst ging einfach weg.
Im Nachgang ist klar, dies geschah sicherlich im Schock, denn ich hatte nur im Reflex gehandelt und selbst mit fünf war mir bewusst, dass dieser Verteidigungs-Boxhieb im Verhältnis zum Angriff viel zu harsch ausgefallen war.
Als Michi wieder reden konnte – also etwa eine viertel Stunde später – wurde ich auch sofort als Täter ausgemacht, reagierte aber – noch immer im Schock – nicht auf die Anschuldigungen.

Als diese Erinnerung in mir hochkam, war es bereits gut acht Jahre her. Und obwohl Kinder unter 14 Jahren generell schuldunfähig sind (was man ihnen wohlweislich erst erzählt, wenn sie dieses Alter überschritten haben), plagte mich mein schlechtes Gewissen.
Ich trottete ins Wohnzimmer, in dem meine Mutter sich gerade hingebungsvoll um die Bügelwäsche kümmerte. Meine Mutter und ihre Bügelwäsche – gegen diese Beziehung kam nicht einmal mein Vater an. Es gab kein Kleidungsstück, das es nicht wert war, gebügelt zu werden. „Es muss im Schrank doch ordentlich aussehen!“, war ihr Credo. Einwände, dass die Wäsche im Schrank und nicht der Vitrine liegt, wurden zur Kenntnis genommen – und ignoriert.
„Duuu, Mum… Ich muss was beichten!“ Meine Mutter schaute kurz auf, wedelte dann aber weiter eifrig mit dem Dampfbügeleisen über das Texil. Ich erläuterte meine mir spontan ins Gedächtnis gekommene Erinnerung. Muttern änderte nicht einmal die Geschwindigkeit ihres Wedelns, als sie nickend sagte: „Weiß ich doch. Du hast Michi die Nase gebrochen“ – „WAAAS???“ – „Jaja, seine Mutter hat mich damals abends angerufen und mir Vorwürfe gemacht, dass mein aggressives Soziopathenkind ihrem süßen Engel das Gesichtsfeld zertrümmert hat“; sprachs in einem Tonfall, als frage sie, ob man lieber Bratkartoffeln oder Spagetti zum Abendessen möchte. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du mit mir darüber gesprochen hast?!“ – „Hab ich ja auch nicht.“ Muttern walzt völlig unbeeindruckt eine Trigonometrie-verdächtige Bügelfalte in des Oberstabsfeldwebels dunkelblaue Uniformhose. „Aber… Du hättest doch etwas sagen müssen! Du hättest mich fragen müssen, wie es an dem Tag im Kindergarten war und hören müssen, ob ich die Geschichte freiwillig beichte. Wenn nicht, hättest du mich gezielt darauf ansprechen und nachhaken müssen, was meiner Ansicht nach passiert war. Dann nachbohren, wieso ich ihn geschlagen habe. Und selbstverständlich darauf hinweisen, dass Gewalt keine Lösung ist, man es zuerst mit Reden versucht, und sich in einer unlösbaren Situation an einen Erwachsenen wendet!“ Muttern antwortet nicht. Ihre volle Aufmerksamkeit gilt nun dem krönenden Abschluss ihres Gesamtkunstwerks, bei dem sie ihre Initialien in die Innenseite des Hosenbunds eindampft. Erbost fahre ich fort: „Und was hast du dann zu Michis Mutter gesagt??“ – „Ich hab aufgelegt.“ Mit einem Gesicht voll tiefer Zufriedenheit legt Muttern die Hose auf den Fertig-Stapel.

Und da wundere sich noch einer, wieso ich bin, wie ich bin…

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

35 Kommentare zu “91 | Schwer erziehbar

  1. Eine sehr schöne Geschichte!

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  2. da hat deine Mutter wahre größe und weisheit gezeigt, wenn nicht hätte sie die gelegenheit, dir sowas vorzuwerfen, nicht in den großen teich geworfen.

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    • Ich hätte auch zum jugendlichen Messerstecher werden können 😀

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      • Deine Mutter kannte dich gut genug – oder den Michi 😀

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      • Hättest Du nicht.
        Den Messerstecher werden in der Regel diejenigen, die so was in sich reinfressen müssen. Oder wo ständig drauf rumgeritten wird.

        Ich hab auch mal – als so etwa 10 jährige – dem größten Vollidioten im Dorfe eine verpasst, das er sich glatt auf den Hintern setzte. Da Dorf – trafen sich die Väter verständlicherweise zu allen möglichen Gelegenheiten. Meiner hat mir viele Jahre später erzählt, das sich der Vater der Jungen bei ihm beklagt habe. Mein Vater hat wohl geantwortet:
        Meine Tochter hat Deinem Sohn Eine reingehaun? Da wird er wohl drum gebettelt haben!

        Ich weiß nicht mal mehr, worum es ging, wird sicher das Übliche gewesen sein, ich war ja auf Grund der Behinderung nach heutigen Maßstäben Inklusionsschüler ohne Nachteilsausgleich.

        …..Um annähernd Deine Worte zu gebrauchen: Keine Ahnung, wo meine große Klappe herkommt.
        Aber Manche Leute brauchen ein paar hinter die Löffel. Um zu begreifen, das der Rest der Welt nicht ihr Fußabtreter ist.
        Und besser der Michi lernts mit 5. Später tuts meist mehr weh.

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  3. Coole Story…….ich finde, dass Du das klasse gemacht hast. Wäre ich Deine Mutter gewesen, hätte ich nur angemerkt, nächstes Mal bitte mit halber Kraft und Michi sollte seine Zähne zum Sprechen benutzen.
    Ich war nicht so ein Frühentwickler wie Du. Ich habe Jungs, die mich genervt haben, erst in der ersten Klasse in den Matsch geschubst. 😉

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    • Das war wirklich nur ein Reflex… Als ich in der zweiten Klasse von einem Jungen schwer geärgert wurde und weinend heimkam, erklärte meine Mutter mir, dass ich einen Kopf größer als gleichaltrige Mädchen und zwei Köpfe größer als gleichaltrige Jungs bin und der Schritt des Mannes seine schwächste Stelle ist. Die Frau hat’s aber auch mit Gewalt…

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      • Das glaube ich Dir auf’s Wort….
        😀
        Ich weiß von mir, dass man als Kind mit Jungs nicht reden kann. Die kapieren oft nur körperliche Auseinandersetzungen. So war es jedenfalls bei meinen Söhnen. Die Mädels diskutieren eigentlich Dinge von kleinauf aus. Und wenn sie sich dann mal wie Junge verhalten, wird es als verkehrt angesehen. So war es früher jedenfalls.
        PS: die Aufklärung Deiner Mutter war ja speziell😆

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        • Ist die Frage, ob das „vom Mädchen/Jungen gemacht“ oder so anerzogen ist.
          Heute wird wieder mehr denn je das Geschlecht betont – um die Mädchen zu stärken. Anstatt es einfach unerwähnt zu lassen und so eben gerade KEIN Thema aus dem Geschlecht zu machen (weil’s eben völlig unwichtig ist, in diesem Alter…)

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          • Wahrscheinlich ist es eine Kombi aus beidem Wir verstärken die Unterschiede nur durch unsere Erziehung….meist unbewusst.

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          • Ich denke inzwischen, dass Jungs weniger unterstützt werden als Mädchen, wenn es um die Erziehung geht. Erwartungen an sie sind widersprüchlich.

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            • Ja, Mädchen bekommen ständig erzählt, sie seien stark und könnten alles. Jungs sollen sich irgendwie selbst finden, dürfen aber auch weinen, müssen aber auch männlich sein und irgendwie…
              In meiner Kindheit wurde mein Mädchen-sein nicht thematisiert und das fand ich super, denn mir hat keiner gesagt, dass ich irgendwas muss oder nicht muss, weil ich eine Vagina hab, was mich damals etwa so viel interessiert hat, wie die Rückseite vom Mond… Ich hab einfach gemacht, was ich machen wollte und war, wer ich sein wollte und keiner hat da eine geschlechtlich bedingte Grenze gesetzt oder Erwartungen an mich gehabt. Ich fand es so tatsächlich optimal.

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              • So erging es mir auch. Ich war nur immer schon ein Tomboy (mochte keine Puppen, spielte lieber mit Jungs). Damals erklärte man sich das damit, dass ich einen älteren Bruder hatte.
                Ich achte bei meiner Enkelin darauf, dass sie auch “Jungen” spezifische Dinge macht….baut, mit Legos spielt. Nicht nur mit Puppen und Küche. Einfach nur, um es kennenzulernen. Wahrscheinlich wird sie ihre Prioritäten selbst setzen.
                Ja, als Mann heutzutage sollst Du romantisch, liebevoll sein, erfolgreich im Job, die Familie beschützen, die Frau verwöhnen, aber nicht so ein Luschi sein…..dagegen ist Frau sein ein Kinderspiel!

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                • Ja, aber allein der Begriff „Tomboy“. Zu mir hat man „Bauerntrampel“ gesagt (meine Mutter, als es um Kleider ging). Lasst die Kinder halt Kinder sein und sich ausprobieren und ihre Phasen haben! Wichtig is doch, dass sie glücklich sind!

                  Ich bin generell der Meinung, dass man Kindern abwechslungsreiches Spielzeug kaufen sollte. Und sie auch mal aus ihrer Comfortzone rausholen sollte, indem man irgendwas kauft, das nicht auf der Weihnachtswunschliste stand. So bin ich z.B. zu einer Autorennbahn gekommen und fand sie megaklasse.

                  Als Frau musste heute auch einiges tun… Du sollst liebevolle Vollzeitmutter und Karrierefrau in einem sein. Wenn du dich selbst für Halbtagsarbeit entscheidest, biste eine Versagerin. Entscheidest du dich gegen Kinder, bist du überhaupt keine Frau. Was da ein Druck aufgebaut wird…

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                  • Das ist wahr….. Frauen sollen sich im Job durchsetzen, erfolgreich sein, aber auch eine liebevolle Mutter sein, die die Kinder noch zum Klavierunterricht bringt.
                    Tomboy kommt daher, dass die Hormone bei diesem Mädels anders während der Schwangerschaft waren.
                    Die Welt ist definitiv anspruchsvoller geworden. Es ist eigentlich nicht verwunderlich, dass immer mehr keine langfristige Beziehung eingehen wollen. Das lässt sich am leichtesten abstellen.
                    Und ich stimme Dir in allem zu!

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                    • Ich glaube nicht, dass man keine langfristige Beziehung eingehen will, sondern dass es sich so ergibt.
                      Wir haben gesehen, wie es unseren Eltern und Großeltern ging. 50% Scheidungsrate und einige, die noch verheiratet waren, hätten sich besser scheiden lassen. Man überlegt dann, wenn man das live miterlebt, ob man so leben will und fragt sich, ob allein-sein nicht besser ist, als sich täglichem Martyrium auszusetzen und die Seele langsam verrotten zu lassen.

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                    • Das kann durchaus sein. Ich denke, Du hast Recht.

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                  • Ich weiß nicht ob das ne Bedeutung hat – aber Dorf – na ja.
                    Ich wurde in einer Gegend groß wo es in meinem Jahrgang und dem drüber und drunter nur Jungs und zwei Mädchen gab.
                    Weibliche Spielgefährtinnen also entweder die Eine gleichaltrige, was ausfiel, die war mir zu Prinzessin. Oder drei Jahre jünger( uninteressant) oder drei Jahre älter (seeeeeeehr interessant, aber die wollten mich nicht dabeihaben 😉 ). Also blieben die Jungs. Das ich Kleider anziehen soll, hat meine Mutter aufgegeben, als ich etwa 5 war. Die Haltbarkeit war einfach zu kurz.
                    Da Landkind gab ein an Spielen ja Wald, Wiese, Weide (das der Ochse nicht immer Lust auf Pferderennen hat bekommt man ja mit), Bach, Mühle, Dorfteich, Feldweg.
                    Wir waren meist im Rudel unterwegs. Und ja, den Bach kann man soweit aufstauen, das der Bauer gerannt kommt. Weil das Wasser auf der Wiese steht.

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  4. Du sagst es – du bist, wie du bist – zum Glück!

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  5. Das war bestimmt ein katholischer Kindergarten, bei diesen martialischen Spielchen, und Mädels die gepflegt eine Eine austeilen können, genießen meinen Respekt, denn Jungs können die reinste Pest sein und für Michi war es sicher die beste Erfahrung seines Lebens!

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  6. Muahahahahaaaaa…also ich bin auch dafür Kinder einfach mal Kinder sein zu lassen. Gewalt ist natürlich eher suboptimal, aber ich war damals echt nur ein halber Hering und meine Mutter predigte mir stetig, ich möge mir nichts gefallen lassen. Erst recht nicht, wenn einer MICH zuerst haut oder anderweitig übergriffig wird. So kam es dann auch, dass ich Jochen im Campingurlaub eine reinhaute. Der zeigte sich wenig begeistert, aber meine Mutter verteidigte mein Handeln auch irgendwie. Kann mich zumindest nicht daran erinnern, dass ICH danach Ärger bekommen habe…

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  7. Wer zuerst beißt den bestraft das LEben. Wer hat jetzt das nochmal gesagt? – Und wenn es nur immer so wäre! Aber leider werden die eigentlichen Rowdies, zu denen der leicht zu fangende M. ja wohl eher nicht gehörte, meistens noch durch die inadäqaten Reaktionen der Opfer und der Umwelt bestärkt…

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    • Jemand sagte mal zu mir „Mir hat man immer beigebracht ‚Wenn du dich still verhältst, dann verlieren die Mobber das Interesse‘. Haben die nie! Heute würd ich meinem Kind sagen ‚Schlag ordentlich drauf!!'“ (und er war Pazifist!) 😉

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