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98 | Wenn der Montag auf einen Freitag fällt

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Freitag.
Seit ich in meinen neuen Job arbeite, ist Freitag einer meiner Lieblingstage. Ich meine nicht: ‚Ja, super, Freitag!‘, sondern eher im Sinne von: ‚OH GOTT, FREITAG! DA BIST DU, WO WARST DU NUR, ICH HAB DICH SO VERMISST! *schluchz*‘ Der Einstieg in einen neuen Job ist immer stressig und teilweise versuche ich einfach nur, zu überleben...
Damit es mir meinen absoluten Lieblingstag – den Samstag – nicht verhagelt, hat es sich eingebürgert, Freitag nach der Arbeit noch flott einkaufen zu gehen. Samstagsvormittags sind die ganzen bekloppten Berufstätigen im Laden, stoßen sich gegenseitig Einkaufswagen in die Hüfte und prügeln sich um den letzten Bio-Brokkoli, das braucht doch kein Mensch.

Auch an diesem Freitag erledige ich also meinen Wocheneinkauf nach der Arbeit. Zum Glück muss ich nicht weit laufen, könnte ich doch die Einkaufstasche mit Schwung aus dem zehnten Stock werfen und sie würde genau auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt landen.

Der Einkauf ist geschafft, die zwangsverpflichtende Verweilung („Kassenschlange“) wurde geduldig ausgesessenstanden und schwerbepackt mit frischer Ware entere ich den heimischen Plattenbau.

Mein Plattenbau.
Das Gebäude ist laut Google Maps mehrererere hundert Meter lang und immerhin elf Stockwerke hoch. Eben ein echter Betonriegel. Für Kenner: „P2“.
Für Nichtkenner: Plattenbauten sind ein eigener architektonischer Mikrokosmus. Während in Neubauten die Wohnungen in Stockwerk 1 und Stockwerk 6 haargenau identisch sind, sind sie das im Plattenbau nicht. Die Platte mit 11 Stockwerken ist so aufgebaut, dass es im 1., 4., 7. und 10. Stock einen Flur über die gesamte Länge des Hauses gibt – den sogenannten „Verteilergang“. Von dort läuft man zu den (fensterlosen) quadratischen Treppenaufgängen, an welchen sich je links und rechts eine Wohnungstür befindet. Der Aufzug hält ausschließlich in den Stockwerken 1, 4, 7 und 10. Wer also im 9. Stock wohnt, fährt in den 10., geht den Verteilergang entlang zu seinem Treppenhaus und läuft dort eine Etage nach unten zu seiner Wohnungstür.
Bedingt dadurch, dass der Verteilergang in den anderen Stockwerken Teil der Wohnung ist, sieht der Grundriss auf jedem Stockwerk irgendwie gleich (Küche/Bad/Flur/Wohnzimmer) und doch total anders aus (weitere Räume ja/nein, Abstellkammer ja/nein, zweiter Balkon ja/nein).
Meine Wohnung befindet sich in Etage 10, was ich damals euphorisch mit: „Toll, der Aufzug hält hier, Umzug und spätere Rollatur-Nutzung sind gesichert!“ kommentierte.
Ich wohne übrigens im „Endstück“ des Betonriegels, weswegen es in meinem Gebäudeteil gleich drei Treppenaufgänge gibt, benannt mit A, B und C, an welchen sich über alle elf Etagen hinweg je links und rechts eine Wohnung befindet.
Für Liebhaber von Extrem-Statistiken: Ich habe „um mich herum“ vier Mitmieter-Parteien (oben/unten/links/rechts), in meinem Treppenaufgang 21, im gesamten „Endstück“ 65 und über den gesamten Betonriegel fast 600, die sich in ein bis fünf Zimmern verteilen.
In der DDR der 70er Jahre war die Platte absoluter Luxus, bot sie doch Zentralheizung, fließend Warmwasser und einen Aufzug, während die Bewohner der Altbauten bis zu fünf Stockwerke Kohlen schleppten und Wasser an der Therme aufsetzten.
Heute ist die Platte WIEDER Luxus, da sie meist genossenschaftlich verwaltet wird, was zu einer „Du kommst da ned rein!“-Haltung führt.
Diese Information steht hier nicht als Lückenfüller, sie könnte im weiteren Verlauf der Geschichte relevant sein. Also merkt euch das ruhig mal.

Ich komme also erleichtert – da Einkauf abgehaktim 10. Stock aus dem Aufzug und tappse den Verteilergang runter zur Tür, die das Treppenhaus B vom Flur trennt, als ich ein Piepsen vernehme. Ich rolle mit den Augen und denke mir ‚Yep, die Rauchmelder-Pflicht, here we go. Hat wieder einer bei offener Badtür zu heiß geduscht und einen Fehlalarm ausgelöst.‘
Völlig unbeeindruckt bugsiere ich meine beiden Einkaufstaschen durch die schwere Glastür, lausche kurz und prüfe, ob das eventuell sogar meine Wohnung sein könnte. Ist sie aber nicht.
Es scheint, als ob Steve, mein Nachbar gegenüber, der „Übeltäter“ ist.

Wer glaubt, dass in der Platte bei so vielen Nachbarn Anonymität herrscht, den kann ich eines Besseren belehren: Da es für die gesamte 66-Parteien-Truppe genau einen Aufzug gibt, der auch nur an vier Stellen hält, ist dieser der Dreh- und Angelpunkt für alle Bewohner. Man trifft sich, schnackt während der 15-Sekunden-Fahrt über Gott, die Welt oder die Stasi-Vergangenheit (der ein oder andere saß damals wegen antisozialistischem Verhalten im Knast…); die Klientel reicht vom 20jährigen Studenten bis hin zum knapp 90jährigen Erstbezieher. Kurzum: Man kennt sich.
Und so kenne ich natürlich auch Steve. Steve ist in den Zwanzigern und hat einen Shiba Inu, das ist diese japanische Hunderasse mit dem Teddybärgesicht. „Jessie“, so heißt die Hundedame, ist wahnsinnig verspielt. Erblickt sie einen, geht der Ringelschwanz hoch, sie erwartet umgehend Streicheleinheiten und schnappt nach dem Arm. Was übrigens kein Beißen ist, sondern ein „grabschen“, um die streichelnde Hand noch etwas ranzuziehen.

Ich gehe näher an Steves Appartment, um zu identifizieren, ob das Geräusch tatsächlich von dort kommt. Als ich direkt an der Wohnungstür stehe, vernehme ich Brandgeruch.
Fuck! Schlagartig wird mir bewusst, dass es kein Fehlalarm ist, da stimmt wirklich was nicht! Sofort klingele ich und klopfe gleichzeitig. Ich rufe: „Hallo?!“, klingele und klopfe erneut, rufe nochmal. Ich halte inne. Hab ich da etwas gehört? Kommt Steve gleich raus und sagt: ‚Sorry, musste erst kurz den Rauchmelder ausmachen, das Piepsen macht einen ja wahnsinnig!‘ Ich lausche. Nichts. Hab ich mich nur getäuscht? Ich klingelklopfrufe erneut. Nichts.
Mir kommt ein Gedanke. Ich rufklopfe: „Jessie???“ und höre ein Kratzen an der Wohnungstür. Fuckfuck!
Okay, Lage auschecken: es scheint da drin zu brennen, der Hund ist da und lebt. Wo ist Steve? Liegt Steve bereits – weil viel größer und damit näher an tödlichen Gasansammlungen – ohnmächtig auf den Boden und nur Jessie ist noch wach?
Was mache ich denn jetzt? Aktuell betrifft es nur diese Wohnung. Wenn ich den Hausalarm betätige, mache ich 21 Parteien, schlimmstenfalls aber 65 absolut nervös. Da einige der älteren Herrschaften auf Krücken, Rollatoren und Rollstühle angewiesen sind, könnte es im Falle einer Panik zu ernstzunehmenden Verletzungen kommen!
Wie ich darüber nachdenke, kommt mir Herr Manner in den Sinn!

Herr Manner hat eine Behinderung des Bewegungsapparates, was ihn zu (teilweise sehr langsamem) Gehen an Krücken verdammt. Letztens erst traf ich ihn an, als er im Treppenhaus feststeckte und sich schimpfend am Geländer festhielt, weil der Körper nicht so tat, wie er das wollte. Als er mich erblickte, kommentierte er: „Ein schlechter Tag heute“, wollte sich aber auch nicht helfen lassen, denn: „Meine Wirbelsäule und Hüfte kriegen SIE auch nicht wieder hin!“
Und Herr Manner wohnt mit seiner Frau im 9. Stock genau unter dieser wahrscheinlich brennenden Wohnung!

Wie von der Tarantel gestochen flitze ich herum, zuerst in den 11. Stock, klingelklopfe und informiere die erscheinende junge Frau über die Situation. „Ich hab’s schon gehört, aber ich hab ein Baby hier!“ Ja großartig, ein Säugling und ein 1,90m großer und ca. 85kg schwerer Gehbehinderter, das is doch genau das, was man sich bei einem potentiellen Brand wünscht.
Ich renne weiter, rufe noch: „Packen Sie ein und halten Sie sich bereit“ und slide förmlich die zwei Stockwerke runter. 0,2 Nanosekunden später im 9. OG angekommen (wie fix auch fette Menschen werden können, wenn’s um einen Notfall geht!) mache ich meinen linken Zeigefinger bereit und drücke bei „Manner“. Meine Handlung wird gefolgt von: „Di du di du, da di du du, di du di du, di da!“ Irritiert nehme ich den Zeigefinger von der Klingel. „Das ist jetzt nicht dein verdammter Ernst, oder?! Wir haben hier einen Notfall, es geht vielleicht um Leben und Tod! Ich brauche eine Klingel, die SCHELLT! Bei der man mit dem Zeigefinger den Klingelknopf durch das Gehäuse in die Betonwand DURCHDRÜCKT, bei der der Zeigefinger noch drei Tage später vom Drücken blass und blutleer ist, bei der sich eine solche Geräuschkulisse ergibt, dass die Bewohner auf der anderen Seite der Tür nur durch die Druckwelle des Schalls vom Sofa RUNTERGEBLASEN werden! Und du spielst hier lustige Melodien?!?!“ Mit einem genervten „Hoar!“ lasse ich von der Unwürdigen ab und hämmere beidhändig gegen das Massivholz. Herr Manner – aufgrund der offenbaren Aufregung nu doch recht flott an der Tür – schaut mich fassungslos an. „Feueralarm, Brandgeruch, fertigmachen!“ stenografiere ich. Herr Manner, der verständig nickt und sich anschickt, meiner Anweisung Folge zu leisten, ist im Gegensatz zu mir immer noch Herr seiner logischen Denkfertigkeit und fragt daher verhältnismäßig ruhig nach: „Hat schon einer die Feuerwehr gerufen?“ – „Weiß ich nicht!“ – „Machen Sie das?“ – „Ja!“
Ich zische die Treppe hoch, überlege, wo eigentlich meine Schlüssel sind, erblicke dieselben an der Außenseite meiner noch leicht geöffneten Wohnungstür, fliege im Spagat über meine Einkaufstaschen, lege mich in die Kurve, düse ins Wohnzimmer und SIE RENNT, MEINE DAMEN UND HERREN, SIE RENNT! Jetzt irgendeinen Fernsprechapparat erwischen, Diensthandy, Smartphone, Festnetz, Bechertelefon, Scheißegal! Meine Augen suchlasern durch den Raum, ich reiße mein Smartphone vom Schreibtisch. Wie war denn jetzt die verdammte Nummer? 110, 111, 0815?

Wer weiß, dass er nichts weiß, weiß immerhin etwas. Und deswegen habe ich mir schon vor langer Zeit die wichtigsten Telefonnummern ausgedruckt an die Pinnwand gehängt. Polizei, Feuerwehr, Telefonseelsorge, Hotline der Weight Watchers…

„112!“ brülle ich zu mir selbst und wähle bereits. Mein Gehirn schaltet instinktiv: ‚Hassu das jetzt versehentlich gewählt? Du weißt, da geht jetzt gleich die Feuerwehr ran, also die Echte!‘ Nene, schon richtig, das is tatsächlich ein Notfall. Nur: was sagt man da eigentlich? Beim Notruf rattert man die fünf W-Fragen runter (die ich in der Panik aber auch nicht mehr zusammen bekommen hätte, irgendwas mit „wer, wo, was, wieso-weshalb-warum“ oder so ähnlich), aber bei der Feuerwehr?!
Es wird umgehend abgehoben, eine männliche Stimme begrüßt mich mit: „Wo ist der Notfallort?“ Ah toll, ich werde durchgeführt, wie bei einer Programminstallation am Computer. „Kölner Straße Einhun…“ – „MOOOment!“ Ich höre ein Tippen und denke mir ‚Alta, das wirste dir wohl merken können, oder? Soll ich „Kölner“ vielleicht noch buchstabieren? Schonmal einer bei lebendigem Leibe verbrannt, während du noch am Tippen warst?!?!‘ Ich warte, sozusagen geduldig. Gebe nicht nur Hausnummer, sondern auch Treppenaufgang und Stockwerk an, klingelklopfe parallel dazu weiter an die Wohnungstür und rufe: „Hallo? Hallo!“ als ob der ohnmächtige, halbtote Steve davon auferstehen und an die Tür kommen würde.

Als mein Gesprächspartner suggeriert, die Daten aufgenommen zu haben, spreche ich ruhig und andächtig ins Telefon: „Der Rauchmelder-Alarm ist vernehmbar, ein Brandgeruch hängt in der Luft. Da kein Qualm unter der Tür der betroffenen Wohnung austritt, wurde noch kein Hausalarm abgeben. Jedoch sind die Bewohner der direkt um den Notfallort befindlichen Appartments im 9. und 11. OG informiert. In der Wohnung liegt vermutlich eine hilflose Person, auf jedenfall befindet sich dort ein Hund, der auf Kontaktaufnahmeversuche positiv reagiert.
Vielleicht hab ich in
meiner Panik aber auch einfach nur in den besseren Taschenrechner gebrüllt: „IN DER WOHNUNG LIEGT EIN HUND!“, woraufhin sich der Herr wohl dachte ‚Warum rufste dann bei mir an?!
Was auch immer ich tatsächlich von mir gegeben hatte, mein Paniklevel war sicherlich hoch genug, dass jedem Zuhörer klar sein musste, dass es sich nicht um einen Scherzanruf handelt.
Weil in mir langsam auch selbst ankam, dass klingeln, klopfen und rumbrüllen mal so gar nix bringt (tat es doch, komme später dazu), rüttele ich an der Tür. Unsere Genossenschaft is eine Gute und hat alle Wohnungstüren zusätzlich zum Hauptschloss mit einem Sicherheitsschloss versehen, dessen Schlüssel aussieht wie ein Kreuzschlitzschraubenzieher. Da bei meinen Rüttelversuchen Steves Tür auf ganzer Länge nachgibt und nur am Hauptschloss fixiert bleibt, ist klar, dass der Junge zu den Gutgläubigen gehört, die das Schloss aus Faulheit nicht benutzten. Folglich brülle ich ins Rohr: „ICH TRETE DIE TÜR EIN!“ Ich mein, für irgendwas müssen die fetten Stampfer doch nützlich sein?!
Es folgte ein verstörtes „Nein, das tun Sie NICHT! Sie warten, bis wir kommen!“

In einem ruhigeren Moment hätte ich sicherlich sofort verstanden, wieso er das sagte: Wenn da wirklich Feuer war, würde ich durch das Öffnen der Wohnungstür viel Sauerstoff zuführen, was den Brand zusätzlich anfachte. Des Weiteren würde das gesamte (fensterlose!) Treppenhaus in Sekunden zuqualmen und potentiell 22 Mietparteien qualvoll dem Erstickungstod zuführen.
Nur: Wenn du da auf der Fußmatte stehst, und in der Wohnung kratzt ein Lebewesen an der Tür, dem du nicht verständlich machen kannst, dass du erstens da bist und dich kümmerst, zweitens Hilfe unterwegs ist und drittens es jetzt am besten wäre, auf den Balkon zu gehen, die Tür hinter sich zu verschließen und Frischluft zu atmen, wird’s halt kritisch. Da sachlich zu bleiben und zu sagen: ‚Okay, besser es sterben zwei, als zahllose Kinder, Frauen, Männer, Hunde, Katzen, Wellensittiche, Hamster…‘, ist nicht Teil des empathisch-menschlichen Bauplans (zumindest nicht bei mir).

In dieser für mich surrealen Situation öffnet sich andächtig die Tür zum Verteilergang. Es war, als prallten zwei Welten aufeinander, das Panik- und das Alltag-Universum: Ein roter Schopf zwängt sich durch die Tür und blickt mich erstaunt an. Ich reiße die Augen auf. Es ist Steve! Wie kann er ohnmächtig in der Wohnung und gleichzeitig…
„IRGENDWAS BRENNT IN DEINER BUDE!“ brülle ich ihn an. Er ruft:SCHEIẞE!“, schmeißt seine Einkäufe hin, fliegt mit ausgestrecktem Schlüssel zur Wohnung, reißt die Tür auf und… Der sonst rotgestrichene Flur wirkt etwas verschwommen, geschuldet den umherwabbernden Rauchschwaden. Die aber immerhin weiß und nicht schwarz sind. Im selben Moment steht Jessie auf der Türschwelle. Steve heult fast: „Jessie!“ Ich brülle: „JESSIE! RAUS!“, woraufhin sie mich mit diesem ‚Das musste mir nich zweimal sagen, ich fand’s da drin jetzt auch nicht mehr ganz so geil!‘-Blick ansieht, sich in ihre atomaren Bestandteile auflöst und mit dem Treppenhaus verschmilzt.
Wir rein. Steve wetzt gezielt in die Küche, ich brülle (was anderes konnte ich bei dem Adrenalinpegel scheinbar nicht mehr): „MACH DAS FENSTER AUF!“, gefolgt von einem ziemlich theatralischen: „WIR WERDEN SONST STERBEN!!!“, gleichzeitig renne ich zur Balkontür.
Ja, das Korpus-Delikti ist klassisch ein Topf auf dem Herd. Nein, er schlägt noch keine Flammen, aber was auch immer das Schwarzverkohlte da drin zuvor gewesen war, es ist jetzt definitiv total tot und gut durch.

In dem Moment wird mir klar, dass ich immer noch die Feuerwehr am Rohr habe. „Hallo?“ spreche ich – immer noch aufgedreht, nun aber auch schuldbewusst ins Handy. „Sind Sie in der Wohnung?!“ Er hatte unseren Dialog scheinbar gespannt verfolgt. Ich bejahe und erwähne den Topf. Pflichtbewusst belehrt er: „Den Topf nicht direkt anfassen! Erstmal kaltes Wasser rein!“ Ich souffliere zu Steve: „Topf nicht anfassen!“, sehe aber, dass er ihn schon mit einem dicken Handtuch am Wickel hat und gerade in die Spüle befördert.
Ich bedanke mich artig bei dem Herren am Telefon, der erleichtert meint: „Dafür sind wir ja da!“

Ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, denn es fühlte sich an, als hätte ich die Hotline 10 bis 15 Minuten besetzt. Laut meinem Handy-Protokoll waren es jedoch gerade einmal drei Minuten...

Steve kümmert sich um den Topf, während mir bewusst wird, dass Jessie ja davongewetzt war. Gut, weit konnte sie nicht kommen, das Treppenhaus ist zu allen Seiten mit Türen abgeschlossen. Dennoch hüpfe ich wieder aus der Wohnung und sehe auf der Treppe Simon stehen – mein Nachbar unter mir – der mir kommentarlos mit ausgestrecktem Arm einen Haushaltsfeuerlöscher hinhält. Ich muss mich erstmal sortieren, ehe ich hervorpresse: „War nur ein Topf, ham wir im Griff.“ Er nickt erleichtert, geht die Treppe wieder runter und scheint andere zu informieren.

Wie sich später herausstellte, hatte mein brüllendes und klopfendes Gebahren einen Großteil der anwesenden Bewohnerschaft des Treppenaufganges B in Aufruhr versetzt und diverse Personen dazu veranlasst, Alte und Schwache hinfortzuschaffen.
Das wusste ich da aber noch nicht.

„Jessie?!“ Das teddybärgesichtige Etwas kommt mit gar nicht glücklichem Ausdruck und seitlich hängendem Ringelschwanz fragend auf mich zu. Ich bin erleichtert. „Komm her!“ Doch ich stehe genau vor der Wohnungstür und Jessie legt mit einer ‚Äh, ne, da drin war laut und stank und Rauch, da geh ich nich nochmal hin!‘-Körperhaltung den Rückwärtsgang ein. Ich verstehe, schnappe sie mir, öffne die Tür zum Verteilergang und mache erstmal ein paar Fenster auf. Danach wird sie kräftig durchgeknuddelt. Ihre Beinchen zittern und sie grabsch-schnappt sachte nach meinem Unterarm. Ich bemerke, dass sie nicht die einzige ist, die zittert und so stehen wir eine Weile schmusend da.

Irgendwann geht die Glastür wieder auf. Es ist Steve. „Ich hab schon seit Stunden auf kleiner Stufe ein Schmorrgericht im Topf und ich war doch nur fünf Minuten weg!!“ Ja, wie oft stehen Feuerwehrleute in völlig ausgebrannten Wohnungen und hören eine Geschichte, die genau so beginnt?!
Ich glaube, der gute Steve wird nie wieder irgendwas in seiner Wohnung alleine lassen…

Jessie war mit uns an ihrer Seite bereit, sich doch nochmal in die Nähe der Wohnung zu begeben. Bis auf den Schreck – wobei unklar ist, was sie mehr verstört hat, der piepsende Rauchmelder, der Qualm oder doch die hysterisch an die Tür kloppende Frau – ging es Jessie gut und Steve ging – nachdem er in der Wohnung alle Fenster aufgemacht hatte – erstmal eine Runde mit ihr spazieren.

Später klingelte Steffi an meiner Tür. Sie ist die Frau von Simon, beide wohnen mit dem gemeinsamen Sohn unter mir. Sie erzählt, dass sie den Tumult mitbekommen und daraufhin entschieden hatten, dass sie mit dem Kleinkind das Haus verlässt, während Simon erstmal obenbleiben und abwarten sollte. Als sie selbst mit dem Junior dann draußen stand, kam sie sich vor wie ein egoistisches Stück, weil sie ihren Arsch gerettet und andere alleine zurückgelassen hatte. Ich riss bei ihrer Ausführung die Augen auf und meinte, dass das doch super war. Denn im Ernstfall muss die Feuerwehr nicht nur direkt Betroffene retten, sondern wird von Flüchtenden beim Rettungs- und Löschversuch behindert und muss die ggf. auch noch retten, was alles nur unnötig verzögert.

Ja, so kann’s manchmal gehen.
Bei all der Aufregung sind wir aber einfach nur froh, dass nichts und niemand zu Schaden kam.

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

19 Kommentare zu “98 | Wenn der Montag auf einen Freitag fällt

  1. Na, das war doch mal ein dufter Freitag, toller Einstieg ins freie Wochenende.:-) Ich war auch mal so ein Plattenbaubewohner. Anonymität gab es nicht. Und ja , ich habe gerne da gewohnt.
    Danke, für die Mitteilung Deines Überlebenskampfes in Top – Beschreibung .

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  2. Gut, dass niemand verletzt wurde, sonst hätte ich ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich beim Lesen öfters schmunzeln musste.
    Einfach toll wie du Jessie beschreibst!

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  3. Liebe Roe, sorry, weil ich dauernd lachen musste, aber nach deiner Eingangsbeschreibung vom Gebäude ward ihr alle nur noch Mordillofiguren in einem Wimmelbild 🙂 Schön, dass alles gut ausgegangen ist und sogar die Haustür heil bleiben durfte. Was ich jetzt dennpch wissen möchte, was war denn das für ein Schmorrgericht? 😀 Beste Grüße zu dir aus Marburg!

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  4. So etwas ähnliches habe ich in den 70er Jahren in einem 20geschossigen Plattenbau auf der Fischerinsel erlebt – nur hatten wir keine Rauchmelder, sondern nur Qualm auf der Etage – es war auch ein angebrannter Braten.
    Ich wohne jetzt auch im Plattenbau, aber im westlichen. Da müssen alle entweder 8 Stufen nach oben oder nach unten laufen, da die Fahrstuhlhaltestellen auch nur aller zwei Etagen sind – also etwas besser als bei euch.
    Der Hund hat bestimmt gelitten wie Hund, wie man so schön sagt.
    Mit Gruß von Clara

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  5. Bei uns ist der Rauchmelder in Nähe der Küche 3x angesprungen, ohne dass wir damit gerechnet hätten.
    Einmal war es der Toaster (inzwischen entsorgt) und dann noch die vergessene Bratpfanne auf dem Feuer, weil der Rotwein `meine Regierung´ (angeheiratet) abgelenkt hatte. Das 3. hab ich vergessen.
    Ich hab mir noch das Verb `klingelklopfen´ gemerkt und bin ziemlich platt von der Hitze. Ja, und meine Platten hab ich alle verschenkt an einen Sammler und höre viel CD`s. Depp Purple hat grad noch ein Studioaalbum herausgebracht. Hab aktuell darüber berichtet.
    Die Geschichte find ich echt lebendig geschrieben, liest sich wie ein Krimi!
    Schönen Tag noch!
    Jürgen aus Loy

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  6. Ich hab einige Jahre im 11. Stock eines Innenstadt-Hotels als Nachtportier abgesessen. Als das Hochhaus, das ich all die Jahre als „riesiges Einwegfeuerzeug“ betrachtete, vor 10 Jahren gesprengt wurde und zu Boden fiel, stellte ich mir vor, dass jetzt Luft war, wo all die Jahre der 11. Stock gestanden hatte. Ich hatte all die Jahre in der Luft gesessen.

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