110 | Es kommt eben doch nicht auf die Größe an

16. Mai 2022 von roerainrunner 15 Kommentare

Ich war ein großes Kind.
Also nicht im Sinne von ‚Ich bin erwachsen und habe mir mein inneres Kind bewahrt‘. Nein, ich war einfach großgewachsen!

Für Grundschüler meiner Generation galt: Mädchen waren einen Kopf größer als Buben. Ich war in der Grundschule einen Kopf größer als gleichaltrige Mädels und zwei höher als die Jungs. Man schätzte mich grundsätzlich fünf Jahre älter, als ich tatsächlich war.

Meine Mutter hatte irgendwann in den 80ern in einer Hausfrauenzeitschrift gelesen, dass man die Körpergröße seines zweijährigen Kindes mit dem Alter der Mutter des Mannes multiplizieren, durch Null teilen und so herausfinden könnte, wie groß das eigene Kind später einmal ausgewachsen sein würde. Meine Mutter berechnete nach Adam Riese und Brigitte das stolze Stockmaß von 1,80m für mich.

Jeden Abend in der Badewanne dieselben Dialoge:
„Du bist schon wieder gewachsen. Ich seh das doch!“ Dieser vorwurfsvolle Unterton! Als ob ich das irgendwie hätte beeinflussen können?!
Vor allem: Hatte es zwei Stunden zuvor beim Abendbrot nicht noch geheißen: „Iss dein Gemüse auf, damit du GROSS und stark wirst“? Entscheiden Se sich mal, Mutter Rainrunner!

„Wenn du zu groß bist, wirst du nie einen Mann abbekommen!“ Ja, so war das damals, Ende der 80er/Anfang der 90er. Da waren auf dem Dorf zwei Sachen Gesetz. Erstens: Männer müssen größer sein als Frauen, ergo Frauen kleiner als Männer. Zweitens: Frau braucht einen Mann!
In der Grundschule interessierte mich das einen Pups: Jungs waren entweder blöde oder dazu da, in den Dreck geschupst zu werden, wenn sie mal wieder das Fort im Wald zerstört hatten! Was sollte man mit denen denn auch sonst anfangen?!
Um genau zu sein, seh ich das heute noch so. Ja, „wollen“ tut frau Männer schon. Aber „brauchen“?

„(Mit einem Seufzer) Naja, wenn du es wirklich auf 1,80m bringst, dann wirst du eben Model! Wenn du nur nicht so viele Narben und blaue Flecke hättest. Da, am Knie. Wie ist das schon wieder passiert?“ Keine Ahnung! Wie stellen Mütter sich das vor? Man jagt den Fort-zerstörenden Jungs hinterher, stolpert im Eifer des Gefechts über einen Stein und brüllt: „MOOOOO-MENT, alles stehengeblieben! Wer befindet sich aktuell im Besitz der Post-it-Zettel? Man reiche mir einen derselben! Also, es ist (Uhr checken), Montag, 03. Juni 1991, 15:41 Uhr und 13 Sekunden. Koordinaten: 49°50’44.2″N 7°23’22.3″E. Tathergang: Bei Rache-Jagd auf Sven S. über einen Stein gestolpert und das Knie aufgeschlagen. Erwartete Blutergussgröße: mindestens 6cm im Durchmesser (klebt sich das Post-It auf das blutende Knie). Sooo, alles ordnungsgemäß für Muttern protokolliert! Weiter geht’s!“
Kein Kind, jemals! Kriegt man in dem Alter doch gar nicht mit!

Tatsächlich habe ich die peniblen Bemerkungen gar nicht als Angriff auf meinen Körper betrachtet, sondern bemitleidete Models: Für mich waren blaue Flecke, Schnitte und Schürfwunden das Ergebnis wilden Spielens. Wenn Models keine blauen Flecke, Schnitte oder Schürfwunden haben durften, schlussfolgerte ich daraus, dass sie niemals spielen durften. Wie entsetzlich; wer will denn überhaupt noch weiterleben, wenn er nicht spielen darf!?

Fakt ist, ich habe mit 11 Jahren meinen Riesenwachstum eingestellt und bin bei verhältnismäßigen 1,68m stehengeblieben.
Ich werde auch heute noch lässig mindestens fünf Jahre älter geschätzt – fürchte aber, das hat andere Gründe (wo gibt’s eigentlich gute Q10-Creme gegen Falten? Hat da einer Empfehlungen?).
Zum Model musste ich also zum Glück nicht umschulen. Für einen Mann hat der bloße Umstand meiner Körpergröße bislang jedoch noch nicht gereicht. Obwohl ich mein Gemüse auch weiterhin jeden Abend brav aufesse…