Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

116 | Wie ich im Bürgeramt beinahe meine Berufung fand

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Die großen Momente des Lebens:
Geburt, Einschulung, Beantragung des Personalausweises.

Schon eine ganze Weile bin ich alt genug, um den Personalausweis nur noch alle zehn Jahre beantragen zu müssen. Einerseits schmälert das den Organisationsaufwand, andererseits legt es einem Steine in den Weg, wenn man Gewichtsschwankungen von plus/minus 20kg zu verzeichnen hat und dazu neigt, seine Haare von hellblond auf ganzschwarz umzufärben…
„Das sind Sie nicht!“ – „Doch, natürlich.“ – „Niemals nie nicht. Sie kriegen von mir gar nix!“ – „Guggen Sie doch mal, die blauen Augen, die Rübennase, der niedliche Kussmund!“, versuche ich zu beschwichtigen. Die Bäckereifachverkäuferin hebt meinen Personalausweis auf Höhe meines Kopfes und mustert mich grimmig. „Nicht lächeln!“, befiehlt sie scharf. Ich blicke finster drein, und muss mir jetzt auch gar keine Mühe mehr dafür geben: „Ich würde jetzt wirklich gern mein Paket mitnehmen!“ – „Naja, jetzt mit der schlechtgelaunten Visage… Sindses wohl doch…“ Brummelnd nehme ich mein netterweise in der Bäckerei abgegebenes Paket in Empfang und ziehe von dannen.
Ja, es wird offenbar dringend Zeit, die fremde Frau auf meinen Identitätsunterlagen mit der realen Frau im echten Leben zu synchronisieren!

In der Stadt, in der ich heute lebe, ist das leider nicht ganz so einfach.
Was war das früher schön: Man tappste irgendwo in ein kleines, verschlafenes Amt, setzte sich auf einen nach DIN-Norm standardisierten Wartezimmer-Stuhl, vor ein Büro, an dem ein Schild „Namen: Org bis Rbn“ klebte – ein Geheimcode, den heute nur noch Menschen verstehen, die einen Brockhaus besaßen (oder zumindest wissen, was das ist) – und der mir – Frau Rainrunner – suggerierte, hier Platz zu nehmen, bis eine gelangweilte Sachbearbeiterin mir Einlass gewährte, einen Stapel Papier verklammerte und verstempelte und mich auf magische Weise mit einem neuen Personalausweis verheiratete.

Nicht zu vergessen auch die Beantragung meines allerersten Personalausweises: Ich hatte soeben ehrfürchtig Platz genommen, der Sachbearbeiterin zaghaft alle notwendigen Papiere hinübergeschoben, als plötzlich das Telefon klingelte, die Dame formalgrüßend abnahm, kurz lauschte, mich dann überrascht anblickte und ernst-streng sagte: „Die sitzt vor mir!“
Für einen Moment sah ich das SEK das in trostlosem 60er-Jahre-Design gehaltene Amt stürmen, aber scheinbar war ich an diesem Tag lediglich in einem Schneesturm verlorengegangen, als ich gegen 08:00 Uhr von der Schule abwesend gemeldet worden war, mit 50min Verspätung durch den Schneesturm kämpfend wie ein Yeti bekleidet im Klassenzimmer eintraf, die Schule vergaß, die Abwesenheitsmeldung zurückzuziehen und stattdessen meine Mutter brüskiert darüber informierte, dass ich abgängig sei, die jedoch von nichts wusste. So gab es seit 08:10 Uhr offiziell eine Vermisstenmeldung, die sich erst auflöste, als meine Mutter – bei ihrer Heimkehr von der Arbeit zuhause ebenfalls kein möglicherweise schwänzendes Kind vorfindend – hysterisch das Bürgeramt anbimmelte, wohlwissend, dass ich nach der Schule um 14:00 Uhr dort einen Termin haben sollte.
Wenn man von seinem eigenen Verschwinden immer als Letzte erfährt…

In der Stadt, in der ich heute als erwachsene Frau lebe, läuft das alles ein wenig anders ab: Die Beantragung eines neuen Personalausweises gleicht der unausführbaren Mission eines furchtbar schlecht programmierten Computerspiels, dass man ohne zu Schummeln gar nicht gewinnen kann.
Es geht damit los, dass man nach Erhalt des Personalausweises ausrechnen muss, wann die Erinnerung für die nächste Beantragung zu setzen ist. Einplanen muss man hierbei: Beim Überschreiten einiger Ländergrenzen ist erforderlich, dass ein Personalausweis noch sechs Monate gültig sein muss. Für das Drucken des Ausweises veranschlagt meine Stadt zwei Monate. Zwischen Terminbuchung und tatsächlichem Termin vergehen üblicherweise drei bis vier Monate. Um den Termin überhaupt buchen zu können, müssen vier bis sechs Monate eingeplant werden.
Mein grafischer Taschenrechner aus der 8. Klasse spuckt aus: „ERROR“.
Ich setze die Wiedervorlage pauschal zwei Jahre vor Ablauf.

Diese zwei Jahre stehen nun an.
Ich lerne immer wieder auf’s Neue, dass es vollkommen irrelevant ist, ob ich den Termin online über die städtische Website, das Bürgertelefon 115, via Faxgerät, Rohrpost oder Bedrohung der Mitarbeitenden mit illegalen Waffen vorort versuche: Alle Kanäle haben dieselbe Quelle, und diese Quelle sagt: „Alle Termine sind für die nächsten drei Monate ausgebucht.“

Ich starte eine wissenschaftliche Studie, erhebe empirische Statistiken, stelle ein ganzes Team ein und bringe irgendwann in Erfahrung: Immer Montags, zwischen 07:34 Uhr und 07:37 Uhr scheinen neue Termine freigeschaltet zu werden, welche innerhalb von Nano-Sekunden ausgebucht sind.

Der nächste Gang führt mich also zum Internetanbieter, um erstmal einen Glasfaser-Anschluss zu beantragen, um die Hürde einer stockenden Verbindung als möglichen Störfaktor von vorne herein ausschließen zu können. Wofür hat man zwei Jahre Zeit, da passt auch das Aufreißen einer Straße mit Verlegung moderner Kommunikations-Infrastruktur in den Projektablaufplan!

Nachdem ich auch diese Hürde überwunden und die Bauarbeiter die Straße wieder asphaltiert haben, dürfen mein Team und ich feststellen: Das war’s nicht.
Im Internet häufen sich Verschwörungstheorien über illegale Terminbuchungs-Mafiabanden, die via programmierter Software alle Termine automatisch auslesen, blockieren und dann im Darknet an Meistbietende offerieren. Diese Preise können sich aber nur die oberen Zehntauend leisten.

Sechs Monate sind ins Land gezogen, meine Verzweiflung steigt und da ich beim Termin-Lotto immer noch nicht den Jackpot gezogen habe, bin ich mittlerweile zum Äußersten bereit: Ich treffe mich hinter dem ALDI beim Drogentreff mit einer vermummten Gestalt, überreiche 800 EUR in kleinen Scheinen, drei Sammler-Silbermünzen, 125g Einhorn-Horn-Staub, sowie die Kralle einer Albino-Fledermaus und erhalte nun die Zusage, dass die Sachbearbeiterin, welche Montags um 07:30 Uhr eintrudelt und nach Bezug ihres ersten Kaffees die Termine auf der Website freischaltet, dies nun eine Stunde früher tun wird, damit sich meine Chance zumindest erhöht.

So sitze ich am darauffolgenden Montag ab 04:00 Uhr mit nach dem fünften Kaffee zittrigen Händen und weit aufgerissenen Augen am PC, hämmere auf „Aktualisieren“ – und tatsächlich, da sind sie: Drei neue Termine!
Nach all den Monaten bin ich Expertin und nur ein Anfänger würde den ersten Termin anklicken – denn das tun alle. Zielsicher klicke ich den letzten Termin an, fülle wild alles aus und erhalte dann – vollkommen überraschend – die Information: „Ihr Termin wurde gebucht.“
Ich weine vor Freude, rufe all meine Verwandten an, berichte von diesem unfassbaren Erfolg, den nicht viele Menschen für sich in Anspruch nehmen können, lokale Zeitungen berichten, Jubel überfällt das Land!
Auf den zweiten Blick stelle ich fest, dass der Termin mit der urigen Uhrzeit „10:27 Uhr“ für ein Bürgeramt am anderen Ende der Stadt ist. Es ist ja nicht so, dass ich 100 Meter von einem Bürgeramt entfernt wohne, welches ich im Homeoffice in der Mittagspause bequem erreichen könnte…
Dazu kommt, dass ich am selben Tag, nur 1,5 Stunden nach dem Termin, eine Schulung für 450 User unserer Software halten soll.
Aber man darf ja nicht wählerisch sein…

Drei Monate später ist es bereits soweit: Ich mache mich hübsch, packe sämtliche Unterlagen und eine Auswahl an Fotos ein (nur Unerfahrene gehen mit genau einem einzigen Foto in die Bürgerämter unserer Stadt, werden dann wegen mangelnder Biometrie abgewiesen und müssen alle Level der Mission des Spiels neustarten!) und mache mich auf den Weg.
Mit dem Zug, der Tram, zwei U-Bahn-Linien, vier Bussen, einer Fähre, drei Taxis, einem Dromedar, einem Muli und zwei Sherpas schaffe ich es, nach nur zwei Tagen und zwei Nächten das Bürgeramt zu erreichen. Aufgrund der angespannten Lage – Eltern im Ausnahmezustand brüllen Sachbearbeiter an, nachdem diese Baby-Fotos ihrer Kinder als „vollkommen veraltet“ abgewiesen haben, dass bei Terminbuchung ihre Kleinkinder tatsächlich noch Babies gewesen waren – gleicht das Amt einem Hochsicherheitstrakt: Schwer bewaffnete Securities checken Personalien, Terminbuchungsformulare und lassen sich kryptische Codes nennen, die dann den Einlass in eine riesige Wartehalle freigeben. Die Menschen, die ich dort vorfinde, haben sich bereits häuslich eingerichtet: Pullover befinden sich in der Produktion, die bei Ankunft wohl nur Wollknäuel waren. Eine Mutter hält einen Säugling im Arm, der vermutlich hier geboren wurde. Menschen mit Decken und Kissen campieren am Boden. In der Ecke des Raumes dreht sich ein Spanferkel am Spieß.
Es gibt nicht mal mehr einen freien Stuhl für mich, um Platz nehmen zu können…

Auf dem Flur höre ich plötzlich: „Serverproblem… Rückstau… Können nichts machen.“ Vorsichtig linse ich um die Ecke, tappse ehrfürchtig zu dem Zwei-Meter-Hühnen mit der schusssicheren Weste und frage vorsichtig: „Ähem… Gibt’s ein Problem?“ – „Wir hatten heute morgen einen Server-Ausfall. Aktuell haben wir einen Termin-Rückstau von…“ Er hält ein Tablet hoch, tippt und fährt fort „… einer Stunde, 54 Minuten.“ Entsetzt blicke ich ihn an: Ich habe genau 1,5 Stunden Puffer, bevor die Schulung startet. Eine Schulung, die ich selbst halten muss!
Mir bleibt nur, nervös zu warten und zu der großen, tickenden Uhr zu blicken.

„Herzlich Willkommen zur Schulung unserer Software ‚Hässlich und schwer bedienbar‘. Mein Name ist Roe Rainrunner und ich darf Sie heute durch den Kurs ‚Basics – Teil 1 von 384‘ führen. Fragen können Sie gerne… Entschuldigung? Ent-schul-di-gung?!“ Ich tippe dem Mann mit der Thermoskanne und dem Grill-Käse-Sandwich auf die Schulter. „Ich versuche, hier eine Schulung zu leiten. Könnten Sie vielleicht etwas leiser schmatzen?!“ Hinter mir bellt ein Hund im Wartezimmer.

Irgendwann wird meine Nummer tatsächlich aufgerufen.
„Hallöööchen!“, begrüßt mich ein offenbar schwer Substanzabhängiger Sachbearbeiter. „Na, was könn’n wa denn für Sie tun?“ Kurz bin ich panisch: Eigentlich müsste er das doch wissen, oder?! „Per…per… Personalausweis!“, röchele ich. „Ach ja.“ Er schnappt sich meine Unterlagen und meine Sedcard-ähnliche Fotomappe mit den 24 unterschiedlichen Passfotos.
Und weil auf Personalausweisen jetzt auch biometrische Daten gespeichert werden, muss ich einen Fingerabdruck abgeben. Das Gerät mag mich aber nicht. Mit einer Engelsgeduld dreht der Sachbearbeiter den Fingerabdruckleser zu sich, sprüht ihn mit Glasreiniger ein, heißt mich, es nochmal zu versuchen und schaut mich dann eindringlich an. „Was machen Sie beruflich?“ – „Äh… Ich bin Supportleiterin. Wieso?“ – „Witzig. So, wie Ihre Hände aussehen, hätt ich auf irgendwas im Holzverarbeitenden Gewerbe getippt!“ Irritiert und auch etwas beleidigt blicke ich meine schwer von Neurodermitis gezeichneten Klauen an.
Und es fällt mir wie Schuppen von den Hän… äh, Augen: Ich hab den Beruf verfehlt!
Mit solchen Händen gehört man in die Unterwelt! Wer will mir einen Mord nachweisen, wenn ich keine Fingerabdrücke besitze?!
Ich könnte die unkonventionellste Auftragsmörderin des Planeten werden, Menschen würden ehrfürchtig meinen Namen hinter vorgehaltenen Händen zischeln, Legenden würden sich verbreiten: Welche Spezies besitzt denn bitte keine Fingerabdrücke? Ist sie ein Mensch, ist sie ein Alien?!
Niemand würde sich nach Anbruch der Dunkelheit noch aus dem Haus trauen, solange sie ihr Unwesen treibt: Die Rainrunner-Killerin!!
Ja, blöd nur, dass das Spurensuche-Team neben jeder Leiche einen Berg neurodermitischer Hautschuppen sichten und mich dank DNA-Analyse umgehend ausfindig machen würde…

„Geben Sie mir mal Ihre Hand“, kommandiert der Sachbearbeiter. Ich reiche sie ihm zaghaft. Er schnappt sich wieder den Glasreiniger und sprüht ihn mir auf die Fingerkuppen. „Ähm!?“ – „Nass sind Fingerabdrücke für den Leser besser sichtbar. Jetzt hopp, drauf damit!“ Widerwillig erkennt mich der Fingerabdruckleser nun doch als Mensch an.
„So, wann wollen Sie ihn dann abholen?“ Ich blicke – noch immer irritiert – auf meinen Finger. „Tschuldigung, wen?“ – „Na, Ihren Personalausweis.“ – „Können Sie den Termin denn jetzt schon benennen? Und mit mir ausmachen??“ – „Aber ja doch. Und falls der Perso noch nicht da ist, naja, kommense halt einfach nochmal.“ Ich blicke den Mann hysterisch an: „Noch…MAL?!“ – „Keine Sorge, üblicherweise sind die Dinger nach zwei Monaten fertig!“ Ich bekomme einen Termin in zwei Monaten zu 08:46 Uhr. Die hams da anscheinend mit lustigen Uhrzeiten…

Auf dem Heimweg erhalte ich eine SMS: „Bitte bewerten Sie Ihre Erfahrung im Bürgeramt [Viertel-Name].“ Hab ich mir ein amtliches Dokument ausstellen lassen oder war ich bei einem Restaurantbesuch?!
Und wo ist in der Umfrage die Auswahl für „Irgendwie sureal, absurd und auch ein bisschen wahsinnig“??

Mittlerweile hab ich meinen Personalausweis tatsächlich erhalten und darf offiziell und voller Stolz verkünden: ich bin jetzt wieder wer.

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

2 Kommentare zu “116 | Wie ich im Bürgeramt beinahe meine Berufung fand

  1. Altaaaa, da sind ja Weltreisen leichter zu organisieren 😀 Und falls dich interessieren sollte, was mir die Werbung in deinen wunderbaren Artikel anzeigt; es ist Habeck, der seinen Reisepass in die Höhe hält. Ich denke, die meinen das als Warnung 😀 Frohe Ostern liebe Roe 😉

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    • Ich wollte gerade schreiben: „Weltreisen sind nur leichter zu organisieren, wenn du dafür in meiner Stadt nicht vorher einen Reisepass beantragen musst!“
      Da scheint WordPress mit seiner Werbung ja ernsthaft Humor zu beweisen!

      Frohe Ostern und glückliche Eier! 🙂

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