Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

67 | 24-stündige 5-Minuten-Anfälle

45 Kommentare

Manchmal haben Menschen ihre 5 Minuten (Tiere übrigens auch).
Ich kann meine 5 Minuten sogar einen ganzen Tag lang haben!

Irgendwo in einer deutschen Großstadt. Das erste Licht des Tages durchbricht das ‚Hollywood-Sign‘. So nenne ich liebevoll die riesigen, aufgestellten Firmenlogo-Buchstaben auf dem Dach, das meine einzige Aussicht darstellt.
Es ist nichts los; in Kundenland ist Urlaubszeit. Die wenigen Hilfesuchenden, die noch herumgeflattert waren, sind längst eingefangen, gepampert und wieder weggestellt worden.
Würde mein Arbeitgeber nicht das papierlose Büro predigen, könnte ich jetzt gelangweilt auf einem Stift herumkauen. Aber wo kein Papier, da auch keine Stifte. Ich blicke interessiert auf meine ergonomische Maus, die aufgrund ihrer sonderbaren Form keiner meiner Arbeitskollegen zu bedienen weiß (bester Diebstahlsschutz ever!). Nein, die wäre zum drauf-herumkauen einfach zu groß. Und vermutlich auch zu keimig…
Auf der anderen Seite des Schreibtisches perfektioniert mein Kollege gerade seine Fähigkeit, mit offenen Augen zu schlafen. Aus seinem Mund bahnt sich ein Sabberfaden den Weg auf seinen bunten Strickpulli und hinterlässt dort einen kleinen See.

Als der Frieden jäh unterbrochen wird: „Guten Morgen. Ich brauche eine Jacke.“ Ich blicke irritiert auf den Kollegen, der im Türspalt steht: „Unfassbar, jetzt kommen die Bettler schon bis an unsere Bürotüren!“ – „Ich wollt‘ mir nur mal ’ne Jacke von euch leihen.“ – „Leihen, LEIHEN?? Wofür?? Das kann ja alles bedeuten!“ Ich äffe seine tiefe Stimme nach: „Ich wollt‘ mir nur mal ’ne Jacke leihen… zum Aufwischen der Kotze auf dem Rücksitz meines Autos, weil mein Kind wieder Magen-Darm hat!“ Ich blicke ihn erbost an. „Ähm… Ich hab mir über meine eigene Jacke Kaffee geschüttet, es rausgewaschen und jetzt trocknet sie. Ich möchte aber derweil beim Rauchen nicht frieren. Deswegen dachte ich, ich frag mal.“ – „Aha, daher weht der Wind. Also die Jacke vom Kollegen da brauchste dir gar nicht anziehen.“ Ich deute auf den Spucke-See-Erzeuger. „Damit siehste nur aus wie eine bayerische Dorfnutte!“ Besagter Kollege schreckt hoch und blubbert in seinen Sabberfaden: „… ich komme aus Baden-Württemberg!“ – „Noch schlimmer!“ Ich wende mich wieder dem Kaffee-Verschütter zu: „Willste mal richtig dämlich aussehen??“ Er zieht die Augenbrauen hoch. „Zieh doch einfach meine Jacke an. Ich hab nämlich gar keine Jacke, sondern einen Blazer!“ Ich spreche es ‚Platzer‘ aus. „Mit Platzer sieht man nämlich total elegant aus! Klar, ich trag unten nur eine abgewetzte Jeans und ausgelatschte Sneaker, also bin ich oben edel und unten assi. Deswegen sag ich ja: total dämlich! Jetzt könnte man natürlich sagen ‚Roe, wieso kaufst du dir dann überhaupt einen Platzer?‘ Na, genau deswegen!“ Ich breche in hyänenartiges Lachen aus, höre schlagartig wieder auf und blicke den Kollegen todernst an. „Öh, ich frag dann mal im Nachbar-Büro…“ Die Tür geht wieder zu. Ich streichele lächelnd meine ergonomische Maus, spreche mit ihr und nenne sie liebevoll ‚Mausi‘.

Einige Zeit später laufe ich den Flur der papierlosen Firma hinunter, um einen Ausdruck aus dem Drucker zu fischen. Ich höre das Gespräch zweier Kolleginnen mit: „Die Dominique aus der Buchhaltung, die ist ja jetzt im siebten Monat. Es wird ein Junge. Wie sie ihn wohl nennt?“ Ich mische mich ein: „Also, wenn ich mal Kinder bekomme, weiß ich die Namen ja schon.“ Die Kolleginnen schauen mich freundlich-interessiert an. „Wenn’s ein Junge wird, nenn ich ihn Pomelo und wenn’s ein Mädchen wird, Gingko-Biloba!“ Der einen Kollegin fällt spontan das Lächeln aus dem Gesicht. Unbeirrt fahre ich fort: „Gingko-Biloba, das Wort fühlt sich toll auf der Zunge an! Habt ihr das mal langsam ausgesprochen? Ginggg-kooo-BI-LOOOO-BAAAA .“ Die Jüngere der beiden blickt irritiert zwischen mir und der anderen hin und her, möchte aber auch nicht unhöflich sein. Zaghaft versucht sie: „Biiilobaaa…“ Ein vorbeilaufender Kollege schaut sie verstört an und geht hastig weiter. Ich strahle sie an: „Das Wort schmeckt auch richtig gut, nicht wahr?“ Sie nickt beklommen. Die andere scheint spontan in ihrer Schockstarre verstorben zu sein. Übermotiviert lächelnd reiße ich den Ausdruck aus dem Druckerfach und laufe wieder den Flur runter.

Ich lackiere mir gelangweilt die Nägel. Abwechselnd pink, grün, lila und gelb.
Der Kollege wacht auf, wischt sich den Sabber weg und reibt sich die Augen. „Was machst’n du da?“ – „Ich nehme Schwimm-Unterricht. Wonach siehts’n aus?“ – „Warum lackierst du dir die Nägel denn in diesen Farben?!“ – „Das sind die Farben der Flagge von Konodrien.“ – „Ko…was?“ – „Konodrien! Unsere Partnerstadt. Die konodrischen Abgesandten besuchen heute unsere Stadt und ich dachte, das wäre ein netter Anlass.“ Während er mich ansieht, werden seine Augen zu immer kleineren Schlitzen. Er sagt kein Wort. Aber ich höre ihn eifrig tippen; bestimmt schmeißt er gerade die Suchmaschine an. „Konodrien…“, wiederholt er nachdenklich. Ich blase den frischen Lack trocken: „Ich hoffe, du weißt, wie man das schreibt! Wäre eine Schande, wenn du nicht wüsstest, wie man unsere Partnerstadt buchstabiert. Wo du schon nicht wusstest, wie die Flaggenfarben sind!“ Er zuckt über seiner Tastatur zusammen.

Während ich noch mein Werk begutachte, kommt unser Cheffe zur Tür hinein. Er klopft nicht, er öffnet die Tür generell nie wie ein normaler Mensch. Er platzt einfach in die Büros. ‚Überraschungsmoment‘ nennt er das und hält es für ein pädagogisch wertvolles Instrument, damit seine Mitarbeiter stets fleißig sind.
Er schaut befehlshaberisch in die Runde. Der bayerischen Dorfnutte fließt der Sabbersee langsam vom Pulli runter auf die Stuhllehne. Ohne meine hocherhobenen, noch trocknenden Fingernägel zu senken, blicke ich den Störfaktor an, ziehe eine Schnute und sage dann mit engelsgleicher Stimme: „Kann ich etwas für Sie tun?“ Cheffe schreitet das Büro ab, um seine dominante Alphatier-Präsenz zu demonstrieren. „Rainrunner, …“ – „Ja?“, unterbreche ich. „RAINRUNNER, …“ – „JA?“ Er dreht sich abrupt um und schaut mich mit scharfem Blick an, blickt danach zur Decke, holt Luft, schweigt. Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch. „Äh, ähm… also… verdammt.“ Der Trick funktioniert doch immer wieder. Wie damals bei dem Kollegen, der ins Büro kam und fragte: „Könnt ihr mir einen Gefallen tun?“, woraufhin ich entgegnete: „Mann, ich hab dir doch eben erst einen geblasen!“ Er wurde feuerrot, verließ das Büro und ist zumindest in den letzten acht Jahren nicht wiedergekommen…

Nachmittags ruft doch tatsächlich noch ein Kunde an: „Ich hätte da mal ein Problem!“ Ach ne, und ich dachte, er ruft an, weil er wen zum Reden braucht. Ich warte auf die Erläuterung. Stattdessen Schweigen in der Leitung. Dann: „Ja, ähm, ich würde gerne einen Techniker sprechen.“ – „Ich fürchte leider, Sie sind bei mir genau richtig.“ – „Oh, äh… Also wenn ich Ihr Programm starte, dann passiert einfach nichts.“ MEIN Programm! Was denken Kunden eigentlich? Dass ich hilfsbereiter Samariter in einer verlängerten Kaffeepause mal eben eigens für die überarbeiteten Büroangestellten dieser Welt ein bisschen Software zusammenklöppele?! Laut sage ich: „Mh. Wissen Sie, momentan ist ja Urlaubszeit in Deutschland.“ – „Ja?“ – „Dort, wo der Server steht, von dem aus das Programm gestartet wird, ist natürlich auch Urlaubszeit. Deswegen startet das grad nicht, verstehen Sie?“ – „Äh, natürlich, alles klar.“ Er verabschiedet sich artig und wünscht mir sogar noch einen schönen Tag. Ich lege auf. Hab ich doch längst…

Mit seligem Gesichtsausdruck kämme ich dem lilanen Spielzeug-Pony auf meinem Schreibtisch die Mähne.
Damals hatte ich einen Kollegen, der bei Software-Besprechungen immer nervtötend leierte: „Was wollt ihr sonst noch?“, woraufhin ich stets entgegnete: „Ein lila Pony!“ Dieser Kollege hat mir zum Geburtstag dann tatsächlich dieses kleine lilane Spielzeug-Pony geschenkt. Ich ärgere mich fürchterlich darüber, denn jetzt kann ich nicht mehr sagen, dass ich ein lila Pony möchte, ich hab ja bereits eines! Aber eventuell braucht es noch einen Spielgefährten? Vielleicht ein grünes Pony mit gelben Sternchen…

Der Sabbersee-Pulli blickt mich lange und eindringlich an. Dann sagt er: „Ich weiß nicht, ob du zuviel oder zu wenig Pillen nimmst. Aber entweder änderst du die Dosis, oder du bringst mir was von dem Zeug mit!“ Ich streichele liebevoll über die Pony-Mähne: „Weißt du, was meine Freundin immer sagt? ‚Ich leide nicht an Wahnsinn, ich genieße jede Sekunde davon!'“

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

45 Kommentare zu “67 | 24-stündige 5-Minuten-Anfälle

  1. Einen Tag mit Dir im Büro! 🙂 Biiiiiitteeeee. Ich MUSS das erleben, nur lesen reicht nicht.
    Und herzlichen Dank fürs Verlinken, das freut Charlie sehr. 🙂

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  2. Also, ich behaupte Mal 🙂 meine Katze hat nicht 5min. so Anfälle, nein, es kann auch Stunden dauern!!!! Somit dürfen Deine 5 Min. auch den ganzen Tag dauern.Du bist ja auch größer, somit besteht ein Anrecht auf Anfallverlängerung. Oder sehe ich das falsch!? Ich wünsche 5min anfallmässig freies sonniges Wochenende

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  3. Liebe Roe, ganz ernsthaft, ohne Spaß. Ich könnte keinem deiner verbalen Elfmeter widerstehen und würde mich von einer Abmahnung zur nächsten hangeln. Wenn ich bei dir in der Nähe wohnen würde, gäbe ich deinem Cheffe freiwillig eine kostenlose Woche Arbeit, nur um mit dir rumzublödeln 😀 Binde doch deinem Kollegen bei nächsten Mal ein Lätzchen um und mache kompromitierende Fotos, wer weiß, wann du die mal gebrauchen kannst 😉 Du hast eine tolle Schreibe, aber das erwähnte ich schon mal. Ich bringe mir auch selbst Zettel und Stift mit und wenn nur zum kritzeln ist, denn telefonieren ohne Zweitbeschäftigung ist nix für mich 🙂

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  4. Arbeiten wir im selben Laden? Ich hab allerdings ne Voodoopuppe bekommen…

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  5. Meine ist in ner Dose…Frischeversiegelt quasi. Mein Chef meinte nur „reine Vorsichtsmaßnahme“ wenn er sieht, dass die Büchse offen ist, droht Gefahr.

    Über unser papierloses Büro hab ich auch mal gebloggt glaub ich 🤔

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  6. Das hat mich ja schon beim Lesen total fertig gemacht … Bitte mehr!

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  7. Du schreibst so dermassen gut, dass ich jetzt nie mehr unbefangen einen Kundendienst anrufen kann, ohne dass ich mir die Menschen dort sabbernd, träumend, rauchend und co vorstelle;-))))

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    • Oh, da könnte ich dir aber viele Anekdoten erzählen…

      Beim Arbeitgeber vor zehn Jahren mussten wir an Feiertagen arbeiten. Aber es rief kaum einer an. Dialog zwischen Chef und Mitarbeiter: „Was hast’n du da im Glas?“ – „Apfelschorle“ – „Und wieso schäumt die so?“ – „Ähm…“ – „Krieg ich auch ein Bier?“
      (Denselben Dialog gab’s auch mit „Wieso sprudelt der Kaffee in deiner Tasse so?“ – „Weil’s Rum-Cola ist…“).

      Ein Kumpel von mir arbeitete bei einem Kundendienst, wo Video-Telefonie angeboten wurden (wenn man 1,xx EUR/min zahlen wollte…). Der trug im Sommer obenrum Hemd und Jacket und unten Shorts und FlipFlops (man sah ihn ja nur nördlich des Schreibtisches).

      Bei einem Arbeitgeber (auch lange her) haben wir mal festgestellt, dass die laminierten Produktflyer sich super als Aschenbecher-Ersatz eignen, da sie nicht entflammbar waren.
      Hach, schöne Zeiten…

      Nein, generell sind wir professionell. Bei uns finden auch häufiger mal Schulungen oder Kundenveranstaltungen statt und dann platzt da spontan irgend so ein Kundensohn in dein Allerheiligstes… *grml* 😀

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      • die Professionalität weiss ich ja, hatte schon so manches Mal gute Gespräche….aber ich denke mir, da passiert vieles Witziges, weil manche Menschen einfach etwas einfacher gestrickt sind und wenn dann technische Fragen sind ;-))) Unerwartete Besuche sind sicher nett 😀

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        • Ich sage dir aber ehrlich: Menschen, die einfach gestrickt/unwissend sind, sind nicht das Problem. Die erzählen dir in einfachen Worten von ihrem Problem und als professioneller Supporter bist du in der Lage, dich auf alle Ebenen (einfacher Sachbearbeiter/Leiter/Administrator) einzulassen und „errätst“ (dank Erfahrung), worum es geht.
          Schlimm sind die, die glauben, Ahnung zu haben, alles besserwissen müssen und dir auf den Sack gehen. Beispiel: „Ich habe Problem A.“ – „Dafür gibt es Lösung X.“ – „Das kann ja gar nicht sein!“ Was willst du dazu sagen, außer die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen? ‚Alta, halt die Fresse und probier erstmal?‘ oder ‚Wenn du es besser weißt, wieso rufst du dann überhaupt hier an und schilderst es mir?‘ Die sind schwierig… 😦

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          • meinen ersten Computer irgendwann in den 90er Jahren habe ich in 5 Minuten abstürzen lassen. Ich rief den Kundendient an, sie brauchten ewig meine Fehlermeldung einzuordnen und als ich dann bei einem kompeteten war, stöhnte er gaaaanz tief und meinte , am besten Neustart…alles andere würde Stunden dauern 😉
            Ich finde Pseudoklugscheisser in jedem Bereich nervend, ich bin das bei meiner eigenen Gesundheit, viele Ärzte sind von mir genervt.;-)

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