Roe Rainrunner

Rainrunning at its finest

114 | Der wahre Ursprung des Fachkräftemangels

13 Kommentare

Der Sommer ist da.
Mit ihm startet in der Berufswelt eine endlose Reihe von Sommerfesten: Auf Teamebene, auf Abteilungsebene, auf Bereichsebene – und wenn’s richtig dicke kommt: firmenweit.
Ich kann Firmenevents grundsätzlich nicht ausstehen, empfinde ich es bereits als unerträglich, einige Individuen acht Stunden pro Werktag ertragen zu müssen. Aber darüber hinaus!?
Doch was ist der wahre Grund für meine Abneigung; wann hat das Leben mich so versaut geprägt?

Es muss schon einige Jahrzehnte her sein, als uns die Nachricht ereilte (damals noch per berittenem Boten), dass ein Sommerfest ins Haus stünde, gar zu erfreuen das Volk mit Speis und Trank.
Klein-Roey war damals noch ganz frisch in der Ausbildung und machte aufgrund ihrer Unerfahrenheit auch jeden Scheiß mit, äh, freute sich auf aufgrund der geringen Ausbildungsvergütung über kostenlose Verpflegung, öhr, ich meine, war aufgrund ihres freundlichen, offenen und neugierigen Wesens positiv gestimmt auf alle Ereignisse, die zu erwarten waren.
Vorzubereiten war nichts, es sollte alles organisiert werden.

Eines schönen Freitags war es dann soweit: Mit dem ersten Eisenpferd des Morgengrauens (oh und es war um 05:00 Uhr ein Grauen…) machte ich mich auf zum Hauptbahnhof. Das Sommerfest sollte nämlich gar nicht an meinem Ausbildungsort München stattfinden, sondern in der Hauptzentrale in Hannover. Treffpunkt am Bahnhof: Sechs-Null-Null-Hundert Natozeit! Dafür würde die Betriebsrätin mit Verpflegung bereitstehen.

Ich fand mich also um 06:00 Uhr am Treffpunkt ein und bemerkte auch zugleich die Gruppe herumlungernder Zombies, die nun sehnlichst auf Kaffee und Frühstück hofften. Ja, denkste. Die das Frühstück ersetzende Verpflegung bestand aus einer Brezel (ohne Butter!) und einem Iso-Zitrus-Drink – den es auch heute noch im entsprechenden Discounter in einer blickdichten grellblauen 0,5l-Flasche zu kaufen gibt – ohne Zucker, aber mit Süßungsmitteln, sollte ja bloß keiner wach werden hier…

Überrascht wurden wir nach der Essensausgabe von einer den Bahnhof durchschallenden weiblichen Stimme: „Auf Gleis 31 fährt ein: Der Firmen-Sonderzug nach Hannover“.
In Anbetracht der Höhe meiner Ausbildungsvergütung, meiner damals kärglichen Lebensweise und der Tatsache, dass ich die einzige in der Gruppe gewesen war, die sich über das ausgeteilte Frühstücks-Substitut ehrlich gefreut hatte, wurde mir plötzlich bewusst, wieso einige Mitarbeitende bereits bei der bloßen Ankündigung des Festes gebrummelt hatten, die Firma solle die Kohle lieber sparen und gleichmäßig auf alle Köpfe verteilen…

So zuckelten nun also mehrere hundert Mitarbeitende den von der Deutschen Bahn vorgegebenen Weg nach Hannover. Unterwegs in Würzburg haben wir noch einige weitere hunderte Kollegen aus dem dortigen Standort aufgesammelt, sodass der Zug sich langsam füllte.

Gegen Mittag trafen wir in Hannover ein. Am dortigen Hauptbahnhof ging das Organisations-Großaufgebot weiter: eine dreistellige Anzahl von Menschen mussten nun ins Hotel verbracht werden – genauer gesagt in zwei, denn eines allein hatte die schiere Personenzahl nicht fassen können.
Es galt nun also, den richtigen Shuttlebus zum richtigen Hotel zu erwischen.

Kleine Anekdote am Rande: Aus Kostengründen und um die Anbuchung weiterer Hotels vermeiden zu können, mussten alle Mitarbeitenden sich je zu zweit ein Zimmer teilen – gleichgeschlechtlich, versteht sich. Denn auch damals waren qualifizierte Angestellte schon echtes Gold wert, diese Form von „Nachwuchsförderung“ wollte die Firma jedoch nicht unterstützen. Und überhaupt: Wie hätte man den zeitgleichen Mutterschutz von mehreren hunderten Mitarbeiterinnen wirtschaftlich verkraften können!
Nun war ich jedoch nicht nur einfach in der Ausbildung, sondern erlernte zudem einen IT-Beruf, in dem Frauen bekanntermaßen schon immer seltene Ware darstellten – lange bevor Fachkräftemangel zu einem offiziellen Hashtag wurde.
So kam es, dass keine anderen weiblichen Azubis zur Verfügung standen, um das Hotelzimmer mit mir zu teilen. Andere Mitarbeiterinnen gab es natürlich sehr wohl, jedoch wollte man diesen nicht zumuten, sich mit der niederen Gattung der „Stifte“ längere Zeit im selben Raum aufhalten zu müssen.
Ich war nun also tatsächlich die einzige Mitarbeiterin der gesamten Firma, die in den Genuss eines Einzelzimmers kommen sollte!

Während meine Kollegen am Bahnhof noch leutselig quatschten, identifizierte ich zielsicher den Shuttlebus, der mich in „mein“ Hotel bringen sollte, bestieg diesen als eine der ersten und fuhr von dannen – diese Information ist für den Verlauf der weiteren Geschichte und die Tatsache, dass ich sie heute überhaupt aufzuschreiben vermag, von absoluter Wichtigkeit.

Am Hotel angekommen ging es weiter: Es gab keinen Sammel- oder Digitalprozess, mit dessen Hilfe man hätte all die Menschen einfach abfertigen können; jedes „Zimmer-Paar“ musste sich finden, gemeinsam ein Formular ausfüllen, Personalausweise vorzeigen und erhielt dann im Gegenzug zwei Schlüssel.
Mit jeder neuen Shuttle-Ladung schwoll die Lobby zu einem Chor an Stimmen und Getöse; man suchte sich, man fand sich, man verlor sich wieder.
Für mich als Zimmer-Einzelkind stellte diese bürokratische Herausforderung keine Schwierigkeit dar, und so entschwand ich flugs mit meinem Gepäck ins korrekte Zimmer, warf die Tasche auf’s Bett und ging wieder zurück in die Lobby, wo die Shuttle-Busse eifrig damit beschäftigt waren, Menschenmassen in Etappen heranzukarren.
Erst nach der letzten Ladung standen sie bereit, um uns nun – erneut in Etappen – zum Veranstaltungsort zu transportieren. Da ich eine der ersten im Hotel gewesen war, war ich nun auch eine der ersten, die dieses Kapitel des Firmenfestes aufschlagen konnte.

Mittlerweile waren die Zeiger meines Handgelenk-Chronometers auf 14:00 Uhr vorgerückt und die Brezel sowie der zuckerfreie ISO-Drink bereits vor Stunden vollständig verdaut – ein zünftiges Mittagessen musste her! Da für Speis und Trank gesorgt sein sollte, hatte niemand Zweifel, dass uns am Veranstaltungsort ein prächtiges Buffet erwartete.

Wie überrascht und enttäuscht waren wir nun, als alles, was wir nach unserer Ankunft in der großen Halle vorfanden, neben hunderten weiteren Kollegen der Hauptzentrale, lediglich ein paar vereinzelte Kellner mit Häppchen-Platten und die „heilige Dreifaltigkeit des Coca-Cola-Konzerns“ – Coke, Fanta, Sprite – waren.
Ein etwas direkterer Kollege formulierte in Richtung des Service-Personals, was wir alle dachten: „Sie können mir die Platte einfach gleich in die Hand drücken!“
Die diesem Gedanken zugrundeliegende Idee fanden wir alle sinnvoll: Kellner suchen, Häppchen nehmen, unauffällig hinterherstapfen, nächstes nehmen, wiederholen bei Punkt 1, bis man satt ist.
In der Realität verwandelte sich die Situation in eine Serengeti-Dokumentation, in der dargestellt wird, wie ein Löwenrudel ein schwächliches Gnu-Baby umzingelt: Vor lauter Andrang hatten die Kellner gar keine Chance, sich überhaupt wegzubewegen, hielten die Platte lediglich hoch, wir bedienten uns und erst, wenn der silberne Boden bis auf die Deko-Serviette abgeräumt war, ließen wir unser Opfer zurück in den Catering-Bereich fliehen. Um – wie wir dachten – für endlosen Nachschub zu sorgen.

Es dauerte keine 20 Minuten, da vermeldete eine Veranstaltungsverantwortliche, dass die Häppchen nun aus seien. Nur hatten zu diesem Zeitpunkt die Busse noch längst nicht alle Mitarbeitenden zum Veranstaltungsort geshuttelt!
Ein Raunen ging durch das Löwenrudel die Kollegschaft und erneut war es jener Kollege, der tönte: „Ey Pinguin, schaff gefälligst Fressen ran!“ Zu welchen Unflätigkeiten der Hunger einen doch treibt – und niemand hatte ein Snickers dabei!
Doch es war nichts zu machen – irgendetwas musste wohl in der Planungs-Abstimmung zwischen München und Hannover untergegangen sein.
Plan C war nun, sich mit den (immerhin gezuckerten) Softdrinks zuzuschütten, in der Hoffnung, dem Hunger damit den Kampf ansagen zu können.

Nach endlosen Reden, Präsentationen und sonderbaren Kampfrufen seitens der Geschäftsführung (damals war noch nicht so mit Mitarbeiter-Zufriedenheit…), sollte gegen 18:30 Uhr endlich das Abendessen serviert werden.
Im Gegensatz zu mir, die schlicht das Glück der frühen Ankunft auf ihrer Seite gehabt hatte, gab es Anwesende, die seit der Brezel keine feste Nahrung zu sich genommen hatten und nun dringend auf selbige angewiesen waren.
Für die ca. 1.200 Anwesenden stand am Kopfe des Präsentationssaales ein kleines Buffet bereit – um das wir uns nun kloppen sollten. Viele gaben sofort auf und es wurden Rufe laut: „Ich warte einfach, bis sich der erste Mob verzogen hat!“, andere – in halb verhungerter Verzweiflung – drohten jedem mit sofortigem Tod, der sich ihnen in den Weg stellen würde.
Auch hier war es wieder schlicht Glück, dass ich mich in besagtem Saal ganz nach hinten gesetzt hatte – und so meinen zumindest in Teilen gefütterten Astralkörper unwissentlich direkt vor dem späteren Buffet geparkt hatte.
Nach nur einer halbstündigen Ansteh-Runde kehrte ich mit etwas Essen an den Tisch zurück – nachholen könnte man ja später noch.

Doch auch hier dauerte es nicht lange, bis verkündet wurde, dass das Essen nun aus sei.
Entsetzt aufgerissene Augen in den Gesichtern der Kollegen, die realisierten, dass nach über zwölf Stunden der Nahrungsmittellosigkeit wohl auch die nächsten zwölf Stunden nichts zu erwarten war.
Not und Verzweiflung wurden so greifbar, dass Menschen anfingen, ihre wenigen ergatterten Speisen mit anderen zu teilen. Szenen wie in größten Krisenzeiten breiteten sich aus und auch ich teilte meine zwei Servierlöffel Reis mit einem Azubi-Kollegen.

Wir alle wissen, dass wenn der Deutsche kein Essen bekommt, eine Veranstaltung – egal wie gut sie sonst geplant sei – als Desaster betrachtet wird.
Damit könnte die Geschichte hier nun also enden. Doch…
Um 21:00 Uhr wurde die Bar eröffnet: Es gab kostenfreie, sehr süße, pappige, vor allem aber extrem hochprozentige Cocktails.
Die hungernde Meute, mittlerweile vor Kraftlosigkeit auch ihres letzten Funken Verstandes beraubt, erinnerte sich an Plan C des Nachmittages, als die zuckrigen Getränke ihren Hunger zumindest ein wenig hatten stillen können – und adaptierten diese Idee auf die Cocktails.

Alle setzen, aufgepasst, wir bearbeiten eine Textaufgabe:
„Ein erwachsener Mann von durchschnittlich 1,85m und ca. 80kg hat seine letzte vollwertige Mahlzeit am Vortag um 17:30 Uhr eingenommen. Er hat seither eine Brezel, sowie fünf Fanta-Orange konsumiert. Um 21:00 Uhr kippt er vier hochalkoholhaltige Cocktails.
Frage: Wie lange dauert es, bis das Chaos ausbricht?“
Antwort: Nicht besonders lange…

Es ging verhältnismäßig gesittet los, mit sehr wild tanzenden Menschen auf einer Freifläche – obwohl gar keine Musik gespielt wurde…
Auch als jemand das Mikrofon an sich riss und gleich zwei (!) Leuten einen Heiratsantrag machte, war die Situation noch tolerierbar.
Als jedoch der Leiter des DevOps-Teams nur in weißer Feinripp-Unterwäsche und Namensschildband um den Hals unverständliches Zeug brüllte, wurde zum ersten Mal klar, dass dies keine der üblichen „After-Work-Parties“ werden würde – und es für mich dringend Zeit war, mein Muster des Tages – immer als erstes zu gehen, egal wohin – dringend zu wiederholen.

So verließ ich gegen 23:00 Uhr den Ort des Geschehens und schlüpfte brav-artig in mein Hotelbett.
Was ich späteren Erzählungen zufolge nicht mehr mitbekam: Dass es auf der musiklosen Tanzfläche zu größeren Ausschreitungen kam. Dass ca. 80% der Anwesenden die Shuttlebusse verpasste. Dass einige Kollegen heuschreckenartig sämtliche Dönerbuden in ganz Hannover leerkauften und –  gestärkt von dieser ersten Mahlzeit des Tages – weitere Pubs unsicher machten, bis es zum völligen Exodus aller Beteiligter kam.

Ich hingegen hatte meinen Handywecker – ja, das gab’s damals schon – auf 06:30 Uhr gestellt, machte mich nach seinem Klingeln in Ruhe fertig, packte meine wenigen Sachen, ließ prüfend meinen Blick durchs Zimmer schweifen und schickte mich an, an der Rezeption ordnungsgemäß auszuchecken, bevor der erste Shuttler bereitstünde.

Die Lobby war kollegenleer.
Auch im Bus war ich eine von nur wenigen Kollegen. Der Bus fuhr sogar extra noch eine Runde über das andere Hotel, um nicht völlig leer am Hauptbahnhof anzukommen – wo jedoch ebenfalls kein bekanntes Gesicht anzutreffen war.
Langsam keimte in mir schon Zweifel auf, ob ich mich in Uhrzeit, Datum oder gar Stadt vertan hätte. Wo bitte waren meine 600 Kollegen abgeblieben?!

Wieder wurde der gecharterte ICE mit individueller Ansage ausgerufen. Doch dieses Mal stieg kaum jemand zu.
Nachdem ich mir bereits einen Platz gesucht hatte und es nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt waren, rasten einige Kollegen mit allerletzter Kraft den Bahnsteig entlang und erreichten den Zug gerade noch so vor Türschluss. Stimmen wurden laut, man habe den Shuttle verpasst und sei gerade noch ins Taxi gesprungen, das man auf eigene Kosten organisiert habe. Noch lauter wurden die Fragen: „Wo ist Sabine? Wo sind Herrmann und Alexander?“ Doch sie blieben unbeantwortet…
Als wir losfuhren, war nur ca. ein Drittel der ursprünglichen Belegschaft anwesend. Ich fühlte mich, als sei ich eine von wenigen Glücklichen, die ein furchtbares Desaster überlebt hatte – und nun mit den wenigen Verbliebenen die Heimreise antrat.

Leider doch nicht ganz so glücklich, denn auf der gut fünfstündigen Rückfahrt waren alle Toiletten dauerhaft besetzt. Aus allen Ecken tönte unwürdiges Würgen und atemloses Röcheln. Einige Kollegen befanden sich – dem Tod näher als dem Leben – in sehr intensiven Diskussionen mit mehreren sich füllenden Plastiktüten. Der Geruch, der uns in den fensterlosen Zügen umwaberte, möchte ich lieber nicht wiedergeben.

Es wurde ein sonderbarer Montag. Die Belegschaft hatte sich mit einem Schlag halbiert. Nur wenige tauchten später mit einem privat finanzierten ICE-Ticket wieder auf.
Niemand wusste, wo die anderen abgeblieben waren. Ob sie den Kampf gegen Hunger und Alkoholvergiftung verloren hatten, oder es ihnen doch den Umständen entsprechend gut ging und sie schlicht ein neues Leben in Hannover begonnen hatten. 

Das, liebe Kinder, war die Geschichte, wie in meiner damaligen Firma der Fachkräftemangel ausgebrochen ist.
Und der Grund, wieso die große Roe heute keine Lust mehr auf Firmenevents hat…

Autor: roerainrunner

https://roerainrunner.wordpress.com

13 Kommentare zu “114 | Der wahre Ursprung des Fachkräftemangels

  1. Danke für die großartigen Lacher 🙂

    Gefällt 1 Person

  2. ich habe schwer geschmunzelt. schade, dass es wohl keine weiteren solchen geschichten geben wird.

    Gefällt 1 Person

  3. Danke für die Tolle Geschichte, es muntert auf😀😀😀😀 Wortgestoeber

    Gefällt 1 Person

  4. Danke für die Lacher. By the way: ich komme aus Hannover und bin seit über 33 Jahren glücklich in Hamburg. Ich möchte NICHT zurück nach Hannover. 😂😂

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar